© REUTERS
© REUTERS
presse

Israelische Luftangriffe in Rafah: Amnesty fordert Untersuchung wegen möglicher Kriegsverbrechen

27. August 2024
  • Eine neue Untersuchung von Amnesty International zeigt, dass die israelischen Streitkräfte bei ihren Angriffen nicht alle notwendigen Vorsichtsmaßnahmen zum Schutz der Zivilbevölkerung getroffen haben 
  • Bei israelischen Luftangriffen auf das Binnenvertriebenenlager Rafah am 26. Mai wurden Waffen aus den USA eingesetzt 
  • Durch Panzergranaten, die auf ein Vertriebenenlager in einer „humanitären Zone“ abgefeuert wurden, starben 23 Zivilpersonen 
  • Befehlshaber und Kämpfer der Hamas und des Islamischen Dschihad hielten sich in den Lagern auf und gefährdeten so die Zivilbevölkerung 

Die israelischen Streitkräfte haben bei zwei Angriffen auf Kommandeure und Kämpfer der Hamas und des Islamischen Dschihad im Süden des besetzten Gazastreifens im Mai nicht alle erforderlichen Vorsichtsmaßnahmen ergriffen haben, um Schäden für die Zivilbevölkerung zu vermeiden oder zu minimieren. Das belegt eine neue Untersuchung von Amnesty International. Diese Angriffe waren mutmaßlich wahllos, und einer der Angriffe könnte auch unverhältnismäßig gewesen sein. Beide Angriffe sollten als Kriegsverbrechen untersucht werden. 

 

Am 26. Mai 2024 wurden bei zwei israelischen Luftangriffen auf das Kuwaiti Peace Camp, ein Behelfslager für Binnenvertriebene in Tal al-Sultan im Westen Rafahs, mindestens 36 Menschen getötet und mehr als 100 verletzt. Unter den Getöteten waren sechs Kinder. Mindestens vier der Getöteten waren bewaffnete Kräfte.

Bei den Luftangriffen, die zwei Hamas-Befehlshaber galten, die sich inmitten der Zivilbevölkerung aufhielten, wurden zwei US-amerikanische GBU-39-Lenkbomben eingesetzt. Der Einsatz dieser Munition, die tödliche Splitter über ein großes Gebiet schleudert, in einem Lager, in dem Zivilpersonen in überfüllten Notunterkünften untergebracht sind, stellt mutmaßlich einen unverhältnismäßigen und wahllosen Angriff dar und sollte als Kriegsverbrechen untersucht werden.  

 

Am 28. Mai, dem Tag des zweiten untersuchten Vorfalls, feuerte das israelische Militär mindestens drei Panzergranaten auf einen Ort im Gebiet al-Mawasi in Rafah ab, der vom israelischen Militär als „humanitäre Zone“ ausgewiesen wurde. Bei diesem Angriff wurden 23 Zivilpersonen – darunter zwölf Kinder, sieben Frauen und vier Männer – getötet und viele weitere verletzt. Die Recherchen von Amnesty International ergaben, dass die Ziele des Angriffs ein Hamas- und ein Islamischer Dschihad-Kämpfer waren. Dieser Angriff, bei dem nicht zwischen Zivilpersonen und militärischen Zielen unterschieden wurde, weil ungelenkte Waffen in einem Gebiet voller Zivilist*innen eingesetzt wurde, die in Zelten Schutz suchten, war mutmaßlich wahllos und sollte als Kriegsverbrechen untersucht werden. 

 

Kämpfer der Hamas und des Islamischen Dschihad befanden sich in dem Lager für Binnenvertriebene, das von den Vertriebenen als „humanitäre Zone“ angesehen wurde, und gefährdeten damit wissentlich das Leben von Zivilpersonen. Mit der Wahl des Standorts in den beiden Vertriebenenlagern wurde mutmaßlich gegen die Verpflichtung verstoßen, bewaffnete Einheiten, sofern dies möglich ist, nicht in dicht besiedelten Gebieten zu stationieren. Amnesty International liegen keine Informationen über den Grund oder die Motive für ihre Anwesenheit vor, aber alle Konfliktparteien hätten alle erdenklichen Vorsichtsmaßnahmen zum Schutz von Zivilpersonen und zivilen Objekten treffen müssen. 

 

Verantwortung des israelischen Militärs: Schutz der Zivilbevölkerung vernachlässigt  

Das israelische Militär war sich darüber im Klaren, dass der Einsatz von Bomben, die tödliche Schrapnelle über Hunderte von Metern weit schleudern, sowie von ungelenkten Panzergranaten eine große Zahl von Zivilpersonen töten und verletzen würde, die sich in überfüllten und ungeschützten Gebieten aufhalten. Das Militär hätte alle erdenklichen Vorkehrungen treffen können und müssen, um Schaden von der Zivilbevölkerung abzuwenden oder zumindest zu minimieren. 

Diese Angriffe galten zwar Hamas- und Islamischer Dschihad-Kämpfern, aber wieder einmal mussten vertriebene palästinensische Zivilpersonen, die Schutz suchten, mit ihrem Leben bezahlen.

Erika Guevara-Rosas, leitende Direktorin für Recherche, Advocacy, Politik und Kampagnen bei Amnesty International

Völkerrechtliche Verpflichtungen aller Konfliktparteien 

 

Die vermeidbaren Todesfälle und Verletzungen von Zivilist*innen sind eine deutliche und tragische Erinnerung daran, dass nach dem humanitären Völkerrecht die Anwesenheit von bewaffneten Kräften im Zielgebiet das israelische Militär nicht von seinen Verpflichtungen zum Schutz von Zivilpersonen entbindet. 

 

Alle Konfliktparteien müssen alle möglichen Vorkehrungen zum Schutz der Zivilbevölkerung treffen. Dies schließt die Verpflichtung der Hamas und anderer bewaffneter Gruppen ein, die Stationierung von militärischen Zielen und Streitkräften in oder in der Nähe von dicht besiedelten Gebieten so weit wie möglich zu vermeiden. 

 

Methodik der Untersuchung 

 

Amnesty International befragte 14 Überlebende und Zeug*innen, untersuchte die Orte der Angriffe, besuchte ein Krankenhaus in Chan Yunis, in dem die Verwundeten behandelt wurden, und fotografierte Überreste der bei den Angriffen verwendeten Munition zur Identifizierung. Die Organisation prüfte auch Satellitenbilder und offizielle Erklärungen des israelischen Militärs. 

 

Am 24. Juni 2024 schickte Amnesty International Fragen zu den beiden Angriffen an die israelischen Behörden. Am 5. Juli 2024 richtete Amnesty International außerdem Fragen an den Generalstaatsanwalt und an Mitarbeiter*innen des Justizministeriums, die der De-facto-Verwaltung der Hamas angehören, und fragte nach der Anwesenheit von Kommandeuren und Kämpfern in diesen zivilen Gebieten. Bis zur Veröffentlichung des Berichts lagen keine Antworten vor.