Loading...

Österreich: Wie viel Menschenrechte stecken im Programm der neuen Regierung? Wir haben es analysiert

21. Jänner 2020

Menschenrechte sind das Fundament unseres Zusammenlebens. Wie von jeder anderen Regierung fordern wir von Amnesty International auch von Türkis-Grün die Einhaltung und Stärkung der Menschenrechte. Bedingungslos. Für alle Menschen.

Unsere Erwartungen an die neue Regierung aus ÖVP und den Grünen sind hoch: Österreich braucht eine Politik, die Menschenrechte einhält und den Zusammenhalt spürbar stärkt. Wir erwarten uns, dass die Regierung die Menschenrechte nicht bloß einhält, sondern deren Umsetzung aktiv fördert und verbessert, dass sie regelmäßigen Dialog mit allen relevanten Akteur*innen mit Wissenschaft und (Zivil-)Gesellschaft pflegt und sich bedingungslos für gleiche Chancen, gleiche Freiheit und gleiche Rechte für alle Menschen in Österreich einsetzt.

Im kürzlich präsentierten türkisgrünen Regierungsprogramm gibt es viele Verweise auf Menschenrechte, insgesamt kommt das Wort – in unterschiedlichen Zusammenhängen – etwa 50 Mal vor. Der Stärkung der Grund- und Menschenrechte wird sogar ein eigenes Kapitel gewidmet: Danach sollen etwa Bemühungen für einen nationalen Aktionsplan für Menschenrechte wieder aufgenommen werden und das Prinzip der Menschenwürde soll in der österreichischen Verfassung verankert werden. In der Außenpolitik will Österreich sich weiterhin für den Menschenrechtsschutz und für Frieden einsetzen. Dass Österreich noch bis Ende 2021 Mitglied des UN-Menschenrechtsrats sein wird, wird zahlreiche Möglichkeiten bieten, dieses Engagement auch tatsächlich zu zeigen.

Dass Menschenrechte in den Regierungsvorhaben so prominent erwähnt werden, ist ein (erstes) positives Signal. Nun muss die Regierung unter Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) und Vizekanzler Werner Kogler (Die Grünen) aber auch in der Umsetzung des Programms zeigen, wie ernst es ihr mit dem Schutz der Menschenrechte und der Verteidigung der Menschenwürde für alle Menschen in Österreich ist.

Viele Vorhaben – solche, die aus menschenrechtlicher Sicht positiv zu bewerten sind, aber auch jene, die menschenrechtlich kritisch zu sehen sind – liegen nun auf dem Tisch. Anbei findest du eine zusammenfassende Analyse der wichtigsten Themen.

Rechtsstaatlichkeit

Meinungsfreiheit, Vereinigungs-, Versammlungsfreiheit

Klimakrise

Polizeigewalt

Soziale Sicherheit, Armutsbekämpfung

Asyl, BBU, Faire Verfahren

Wir von Amnesty International werden uns gemeinsam mit vielen Unterstützer*innen weiter für ein Österreich einsetzen, in dem alle Menschen die gleichen Rechte und Zukunftschancen haben. Wir werden Stellungnahmen verfassen, Menschenrechtsverletzungen aufzeigen und unsere Unterstützer*innen für Menschenrechte in Österreich mobilisieren.

Rechtsstaatlichkeit

Laut Regierungsprogramm soll die Justiz gestärkt werden: Dem Bereich sollen mehr Mittel zur Verfügung gestellt werden und den Menschen der Zugang zur Justiz erleichtert werden. Beides ist dringend notwendig und längst überfällig – vor allem vor dem Hintergrund, dass eine funktionierende Justiz ein zentrales Schlüsselelement für Rechtsstaatlichkeit und die Einhaltung der Menschenrechte ist.

Dass gleichzeitig die Sicherungshaft für potentielle „Gefährder*innen“ im Regierungsprogramm steht, lässt Zweifel aufkommen, wie genau es die neue Regierung mit den Menschenrechten nimmt: Künftig soll eine Person nur aufgrund der Annahme, dass sie die öffentliche Sicherheit gefährden könnte, verhaftet werden können. Anders gesagt: die Möglichkeit eines präventiven Freiheitsentzugs soll geschaffen werden. Eine solche Maßnahme ist mit der geltenden Verfassung und dem Recht auf Freiheit nicht vereinbar. Die österreichische Verfassung schützt das Recht auf persönliche Freiheit. Das gilt ausnahmslos für alle Menschen, die in Österreich leben. Das heißt: Kein Mensch darf willkürlich weggesperrt werden, jede*r hat das gleiche Recht auf Freiheit! Wir werden uns dafür einsetzen, dass dieses wichtige Recht gewahrt bleibt.

Meinungsfreiheit, Hass im Netz, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit

In den letzten Jahren gab es vermehrt Einschüchterungen und Angriffe gegen unabhängige Journalist*innen und somit auf die Pressefreiheit. Alle Menschen haben das Recht auf Informationsfreiheit. Die Regierung muss verstärkt dafür sorgen, dass wir dieses Recht auch in Anspruch nehmen können. Dass die Regierung in ihrem Programm die Erhaltung von unabhängigen öffentlichen Medieneinrichtungen in Österreich erwähnt, ist in diesem Zusammenhang positiv zu sehen.

Unser Recht auf Meinungs- und Informationsfreiheit betrifft viele Lebensbereiche – etwa dann, wenn wir im Internet oder auf Social Media unterwegs sind. Neben den vielen Vorteilen, die uns digitale Plattformen und Austauschforen bieten, beobachten wir zunehmend das Phänomen „Hass im Netz. Gegen Hass, Hetze, Rassismus und Diskriminierung im Internet braucht es dringend menschenrechtskonforme Lösungen, darunter Möglichkeiten, wie sich Betroffene wirkungsvoll wehren können. Dass die neue Regierung hier Lösungen finden will, sehen wir daher als positives Signal. Dabei wird es wichtig sein, dass diese menschenrechtskonform sind. Die von der ehemaligen ÖVP-FPÖ-Regierung geforderte Klarnamenpflicht fällt nicht darunter, sie ist mit unserem Recht auf Meinungsfreiheit und Anonymität nicht vereinbar. Wir werden die von der neuen Regierung vorgeschlagenen Maßnahmen gegen „Hass im Netz“ beobachten und nach menschenrechtlichen Aspekten beurteilen und bewerten.

Ein weiterer Punkt aus diesem Themenbereich betrifft die Vereins- und Versammlungsfreiheit: Die Regierung möchte Vereine, die staatsfeindliches Gedankengut verbreiten, „wirksam bekämpfen“. Die Formulierung im Regierungsprogramm lässt offen, ob weiterhin geplant ist, das Vereinsrecht zu ändern. Das wurde im Wahlkampf in Form eines möglichen Verbots bestimmter Vereine, wie die „Identitäre Bewegung Österreich“, diskutiert – ein, aus menschenrechtlicher Sicht, heikles Vorhaben, das wir bereits im Wahlkampf kritisiert haben:

Das Verbot eines Vereins ist aus menschenrechtlicher Sicht prinzipiell kritisch zu sehen. Jeder Mensch hat das Recht, sich zu organisieren, zu versammeln und so gemeinsam mit anderen seine Meinung auszudrücken. Das ist in der Europäischen Menschenrechtskonvention verankert. Dabei ist es menschenrechtlich verhältnismäßig, Vereine und Gruppierungen zu verbieten bzw. aufzulösen, die gegen Gesetze verstoßen, extremistische oder terroristische Aktionen setzen. Bisher konnte man dies dem Verein „Identitäre Bewegung Österreich“ nicht nachweisen – auch wenn strafrechtliche Ermittlungen gegen einzelne Mitglieder des Vereins laufen.

Um die „Identitäre Bewegung Österreich“ aufgrund ihrer inhaltlichen Ausrichtung zu verbieten, müsste man daher das Vereinsrecht in Österreich ändern bzw. neue Gesetze einführen. Da nicht bloß ein bestimmter Verein gesetzlich verboten werden kann, könnten solche Gesetzesänderungen zur Folge haben, dass Vereine, die für eine Regierung politisch unbequem sind, relativ einfach aufgelöst oder verboten werden können. Das würde das Menschenrecht, sich zu organisieren und zu versammeln, aushöhlen. Das darf nicht passieren!

Klimakrise

Die Klimakrise ist eine der größten menschenrechtlichen Herausforderungen unserer Zeit. Dass türkisgrün klimafreundliche Alternativen fördern möchte, sehen wir positiv. Die Maßnahmen müssen allerdings menschenrechtskonform sein und dürfen soziale Ungleichheiten nicht noch mehr verschärfen.

Wir werden die genaue Umsetzung der Maßnahmen für den Klimaschutz beobachten und darauf achten, dass Menschenrechte – in Österreich, aber auch im Ausland – durch die gewählten Maßnahmen gewahrt sind.

Polizeigewalt

Zum Thema Polizeigewalt finden sich durchaus erfreuliche Punkte im Regierungsprogramm: etwa das Bekenntnis zur weiteren und intensiveren Zusammenarbeit der Polizei mit Amnesty International und anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen im Rahmen des Projektes „Polizei.Macht.Menschenrechte“.

Ebenso besonders erfreulich ist, dass die Regierung sich erstmals für die Einrichtung einer unabhängigen Ermittlungsstelle bei Misshandlungsvorwürfen ausspricht. Schon seit Jahren fordern wir eine unabhängige Beschwerdestelle für Betroffene von Polizeigewalt. Wie wichtig eine derartige Einrichtung – die unabhängig agieren kann und daher zwingend außerhalb des Innenministeriums angesiedelt werden muss – wäre, haben u. a. unsere Recherchen zu den Vorfällen bei der Klimademo im Sommer 2019 gezeigt.

Die Ermittlungsstelle soll laut den Plänen der Regierung sowohl von Amts wegen ermitteln als auch eine Beschwerdestelle für Betroffene sein. Wir haben konkrete Vorstellungen über die Ausgestaltung einer solchen Behörde und werden die Pläne für die Ausgestaltung und Arbeitsweise dieser Ermittlungsstelle daher genau prüfen. Was unserer Meinung nach aber zur Sicherstellung effektiver Ermittlungen dieser Stelle noch fehlt, ist die Kennzeichnungspflicht für Polizist*innen, die wir ebenfalls schon lange fordern.

Presse

Polizeigewalt bei Klimademo: Amnesty fordert unabhängige Untersuchungsbehörde in Österreich

Mehr dazu

Soziale Sicherheit & Armutsbekämpfung

Bei sozialer Sicherheit und Armutsbekämpfung legt die neue Regierung den Fokus auf arbeitsfähige Menschen. Was ist aber mit Menschen, die –aus welchen Gründen auch immer – nicht arbeiten können? Menschen, die auf finanzielle Unterstützung angewiesen sind? Das Sozialhilfe-Grundsatzgesetz, das zum Teil Ende 2019 vom Verfassungsgerichtshof aufgehoben wurde, wird im Programm nicht erwähnt. Eine Änderung ist offenbar nicht geplant. Die Bundesländer müssen also nun jene Teile des Gesetzes, die nicht von der Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs betroffen sind, umsetzen.

Zwar sind die gravierendsten Probleme des Gesetzes nach der Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs aus menschenrechtlicher Sicht beseitigt. Nach wie vor leistet das Gesetz aber keinen Beitrag zur effektiven Verhinderung von Armut in Österreich. Besonders trifft dies auf subsidiär Schutzberechtigte zu. Für uns ist klar: Ein menschenwürdiges Leben muss für alle in Österreich sichergestellt werden!

Asyl – BBU, faire Verfahren, Recht auf persönliche Freiheit

Besonders enttäuschend am türkisgrünen Regierungsprogramm ist, dass an gesetzlichen Vorhaben, die sich vorrangig gegen Asylwerber*innen richten, weiterhin festgehalten wird.
Ein umfassendes Konzept zur Sicherstellung des Menschenrechts auf Asyl sucht man im Dokument vergeblich. Das Menschenrecht auf Asyl wird auch nicht erwähnt. Österreich soll sich nicht länger an international koordinierten und vom UNHCR durchgeführten humanitären Resettlement-Programmen beteiligen. Stattdessen findet sich ein Bekenntnis zum Non-Refoulement-Prinzip – es verbietet die Rückweisung von Menschen in ein Land, wenn ihnen dort ein ernsthaftes Risiko der Verfolgung oder andere schwere Menschenrechtsverletzungen drohen. Das erscheint etwas seltsam, da dieses Prinzip ohnehin verfassungsrechtlich und in internationalen Übereinkommen, denen Österreich angehört, verankert ist.

Der Fokus der Asyl- und Migrationspolitik, wie sie im Regierungsprogramm skizziert ist, liegt unter den Schlagworten „Hilfe vor Ort“ und „Grenzen schützen“ vor allem darauf, dass Menschen auf der Flucht gar nicht nach Österreich gelangen können und dass vorrangig jene Personen, die für die österreichische Wirtschaft von Interesse sind, hier eine neue Heimat finden können. Das greift unserer Meinung nach jedenfalls zu kurz.

Das Recht auf Asyl und das Recht auf ein unabhängiges Asylverfahren müssen immer gelten – egal, wie Staaten wirtschaftliche Migration organisieren und gestalten. Asyl ist ein Menschenrecht: Jeder Mensch, der vor Krieg oder Verfolgung flüchtet, hat das Recht, in einem anderen Staat Schutz zu suchen.

Die Asylverfahren in Österreich müssen qualitativ verbessert und beschleunigt werden. Auch ein faires Verfahren mit einer angemessenen Dauer ist ein Menschenrecht.

Die Idee, Erstaufnahmezentren für Schutzsuchende in EU-Drittstaaten aufzubauen ist aus menschenrechtlicher Sicht höchst problematisch: Die Situation in Konfliktstaaten wie Libyen ist katastrophal, Asylsuchende werden gefoltert und misshandelt, sie haben keine Chance, dass ihre Rechte geschützt werden. Wir fordern von den EU-Regierungschefs Lösungen, die die Menschenwürde der Betroffenen respektiert. Folterlager und Sklavenmärkte müssen umgehend aufgelöst werden.

Die geplante Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen (BBU) soll auch unter der neuen Regierung umgesetzt werden und durch die Schaffung eines „Qualitätsbeirates“ ergänzt werden. Dieser soll die Unabhängigkeit der Rechtsberatung unter Einbeziehung von Juristinnen, UNHCR, Volksanwaltschaft sichern.
Wir sehen die Schaffung der BBU nach wie vor kritisch. Durch die Nähe der BBU zum Innenministerium sind die Qualität und die Unabhängigkeit der Rechtsberatung gefährdet. Das Recht auf ein faires Verfahren – das jedem Menschen zusteht – ist dadurch gefährdet, rechtsstaatliche Prinzipien werden aufgeweicht. Asylwerber*innen müssen sich auf ein faires Verfahren verlassen können. Gemeinsam mit anderen Organisationen werden wir uns weiterhin dafür einsetzen!

Ebenso wie die BBU findet sich auch die vieldiskutierte so genannte Sicherungshaft für potentiell gefährliche Asylwerber*innen nach wie vor im Regierungsprogramm. Nach wie vor ist unklar, wie die Sicherungshaft ausgestaltet sein soll. Klar ist jedoch, dass das Bundesverfassungsgesetz über den Schutz der persönlichen Freiheit einen Freiheitsentzug allein aus Gründen der nationalen bzw. öffentlichen Sicherheit nicht vorsieht. Es ist daher unklar, wie die im Regierungsprogramm angesprochene „verfassungskonforme Lösung“ aussehen soll, ohne dass zuvor dieses Bundesverfassungsgesetz geändert wird. Eine Änderung des Bundesverfassungsgesetzes würde aber einen Rückschritt beim Menschenrechtsstandard in Österreich bedeuten. Das lehnen wir klar ab.

Mehr zum Thema Menschenrechte in Österreich