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Presse © AFP/Getty Images

Türkei: Klima der Angst

26. April 2018

Scharfes Vorgehen der Regierung hat verheerende Folgen für Meinungsfreiheit, Sicherheit und faire Gerichtsverfahren

In der Türkei erschwert die Regierung durch anhaltende und immer schärfere Repressionen die wichtige Arbeit von Menschenrechtsverteidiger*innen und versetzt weite Teile der Zivilgesellschaft in einen Zustand ständiger Furcht. Das dokumentiert der neue Bericht von Amnesty International.

Das Einsperren von Journalist*innen und Aktivist*innen in der Türkei sorgte für Schlagzeilen. Die Auswirkungen des scharfen Vorgehens der Regierung auf die breitere Gesellschaft sind hingegen schwerer zu quantifizieren, aber leider genauso Realität.

Gauri van Gulik, Europadirektorin bei Amnesty International

„Unter dem Deckmantel des Ausnahmezustands haben die türkischen Behörden bewusst und methodisch die Zivilgesellschaft demontiert, Menschenrechtsverteidiger*innen inhaftiert, Organisationen geschlossen und ein erdrückendes Klima der Angst geschaffen“, sagt Gauri van Gulik.

In der Türkei gibt es nur mehr sehr wenige Teile der ehemals dynamischen Zivilgesellschaft, die von dem anhaltenden Ausnahmezustand nicht betroffen sind: Landesweit wurden in den vergangenen Monaten Menschen entlassen und festgenommen, das Rechtssystem wurde ausgehöhlt und Menschenrechtsverteidiger*innen mittels Drohungen, Schikane und Inhaftierung zum Schweigen gebracht.

Der Ausnahmezustand war ursprünglich im Juli 2016 nach dem gescheiterten Putschversuch als vorübergehende Maßnahme ausgerufen worden. Vergangene Woche wurde er jedoch zum siebten Mal verlängert. In diesem Zusammenhang wurden die Rechte auf freie Meinungsäußerung, Freiheit, Sicherheit und faire Gerichtsverfahren für die Menschen in der Türkei erheblich beschnitten.

In Städten im ganzen Land wurden öffentliche Versammlungen pauschal verboten, was eine Einschränkung der Rechte auf Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit darstellt. Gleichzeitig wurden gegen mehr als 100.000 Menschen strafrechtliche Ermittlungsverfahren eingeleitet, und mindestens 50.000 Menschen befinden sich in Untersuchungshaft. Mehr als 107.000 Angestellte des öffentlichen Dienstes wurden entlassen.

Strafverfolgung und Inhaftierung

Viele der prominentesten Journalist*innen und Menschenrechtsverteidiger*innen des Landes – darunter auch Taner Kýlýç, Ehrenvorsitzender von Amnesty International Türkei – sind auf Grundlage haltloser Vorwürfe inhaftiert worden. Doch diese Festnahmen sind lediglich die Spitze des Eisbergs: Antiterrorgesetze und konstruierte Vorwürfe im Zusammenhang mit dem Putschversuch dienen als Grundlage dafür, Menschen zum Schweigen zu bringen, die friedlich legitime Kritik üben. Bekannte Journalist*innen, Akademiker*innen, Menschenrechtsverteidiger*innen und andere Akteure der Zivilgesellschaft werden willkürlich inhaftiert und vor Gericht gestellt. Wenn sie in unfairen Gerichtsverfahren für schuldig befunden werden, drohen ihnen lange Haftstrafen.

Im Februar wurden die Journalist*innen Nazlý Ilýcak, Ahmet Altan und Mehmet Altan wegen ihrer journalistischen Arbeit zu lebenslanger Haft ohne Bewährung verurteilt. Der Vorwurf: Sie hätten versucht, „die verfassungsmäßige Ordnung zu stürzen“. Dem Menschenrechtsanwalt und Kolumnisten Orhan Kemal Cengiz könnte dasselbe Strafmaß drohen, weil er in den sozialen Medien, in Vorträgen und in Artikeln kritische Anmerkungen gemacht hat. Eine Entscheidung in seinem Fall wird für den 11. Mai erwartet.

Die Menschenrechtsverteidigerin Dr. Þebnem Korur Fincancý sagte Amnesty International: „Ich habe zuhause eine kleine gepackte Tasche stehen“ – für den Fall einer Festnahme.

Ziel ist es, ein Klima der Angst aufrechtzuerhalten. Es ist willkürlich. Es ist unvorhersehbar. Es gibt keine wirksame Handhabe dagegen, deshalb herrscht Straffreiheit.

Osman Ýþçi, Generalsekretär der türkischen Menschenrechts-NGO ÝHD

Einschüchterung und Schikane

Das scharfe Vorgehen der Regierung gegen jede Art von Dissens hat im ganzen Land verheerende Folgen für die Meinungsfreiheit: Der Rechtsanwältin und Menschenrechtsverteidigerin Eren Keskin drohen 40 verschiedene Strafverfahren, ein Reiseverbot und Gefängnisstrafen, gegen die sie Rechtsmittel eingelegt hat. Sie sagte Amnesty International: „Ich versuche, meine Ansichten frei zu äußern, aber ich denke ganz klar zweimal nach, bevor ich etwas sage oder schreibe.“

Mit Beginn der türkischen Militäroffensive im nordsyrischen Afrin am 20. Jänner 2018 wurden Hunderte Menschen ins Visier genommen, die sich gegen den Militäreinsatz stellten. Laut Angaben des Innenministeriums waren am 26. Februar bereits 845 Menschen wegen Postings in sozialen Medien festgenommen worden; gegen 643 Menschen liefen Gerichtsverfahren, und bei 1.719 Social-Media-Profilen wurden in Verbindung mit Afrin Ermittlungen durchgeführt.

Der Menschenrechtsverteidiger Ali Erol wurde fünf Tage lang in Polizeigewahrsam gehalten, nachdem er auf Twitter ein Bild mit einem Olivenbaum zusammen mit Hashtags gegen den Krieg gepostet hatte. Ihm droht ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren auf der Grundlage von „Propaganda für eine terroristische Vereinigung“ und „Anstiftung der Öffentlichkeit zu Hass oder Feindseligkeit“.

Im März wurden mehr als 20 Studierende von der Polizei festgenommen, weil sie auf dem Campus an einer Protestveranstaltung gegen den Krieg teilgenommen hatten. Zehn von ihnen wurden später in Untersuchungshaft genommen.

Schließung von NGOs und Marginalisierung bestimmter Gruppen

Im Rahmen des Ausnahmezustands sind bisher mehr als 1.300 Nichtregierungsorganisationen dauerhaft geschlossen worden, weil sie nicht näher benannte Verbindungen zu „terroristischen“ Organisationen unterhalten haben sollen. Hierzu zählen auch Organisationen, die einst wichtige Dienstleistungen für bestimmte Gruppen bereitgestellt haben, beispielsweise für Überlebende sexualisierter und anderer geschlechtsspezifischer Gewalt, für Vertriebene oder für Kinder.

Zozan Özgökçe von der Frauenrechtsorganisation Van Kadýn Derneði (VAKAD) sagte Amnesty International: „Es gibt nun einen großen Mangel an Beratungs- und Hilfsdiensten für Überlebende. Es bricht mir wirklich das Herz.“ VAKAD leistete Unterstützung für Frauen in ländlichen Gemeinden im Osten der Türkei, die ansonsten nur schwer Zugang zu solchen Diensten haben. Die Organisation klärte Kinder über sexuellen Missbrauch auf und schulte Frauen in Sachen Selbstvertrauen und Finanzen. Sie ist nun geschlossen.

LGBTI-Organisationen berichten, in den „Untergrund“ gedrängt zu werden, da in mehreren Städten Veranstaltungen wie Gay-Pride-Paraden und Filmfestivals verboten worden sind. Ein Aktivist sagte Amnesty International: „Die meisten LGBTI+ in der Türkei haben heute mehr Angst als je zuvor. Überall im Land wird scharf gegen das Recht auf Meinungsfreiheit vorgegangen. LGBTI+ haben daher immer weniger Freiraum, sie selbst zu sein.“

„Außergewöhnliche Maßnahmen werden in der Türkei immer mehr zur Norm. Doch trotz der böswilligen und gezielten Attacken auf zahlreiche Personen und Gruppen gibt es dort nach wie vor mutige Menschen, die Flagge zeigen und ihre Stimme erheben“, sagt Gauri van Gulik.

„Die internationale Gemeinschaft muss nun Seite an Seite mit ihnen stehen und die türkischen Behörden auffordern, zivilgesellschaftliche Organisationen von den ihnen auferlegten Beschränkungen zu befreien, die Unterdrückung der Freiheiten zu beenden und dem Klima der Angst und Einschüchterung ein Ende zu setzen“, sagt Gauri van Gulik.