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© Europäisches Parlament. CC0 Lizenz

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Wird sich das Europäische Parlament für die Grundsätze der Europäischen Union einsetzen?

7. September 2018

Unmittelbar nach der Rede von Präsident Juncker zur Lage der Europäischen Union am 12. September werden die Mitglieder des Europäischen Parlaments vor einer historischen Entscheidung stehen: der Entgleisung Ungarns vom Weg der Achtung der Grundrechte und -freiheiten entgegenzutreten oder von einem gemeinsamen Weg abzuweichen und zuzulassen, dass Mitgliedstaaten offen gegen die EU-Grundprinzipien verstoßen.

Zusammen mit Human Rights Watch, dem Open Society European Policy Institute und anderen ungarischen und europäischen zivilgesellschaftlichen Organisationen appelliert Amnesty International an die Mitglieder des Europäischen Parlaments, sich für die europäischen Grundsätze, einschließlich der Achtung der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit, einzusetzen.

Im Juni 2018 stimmte der Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres (LIBE) des Europäischen Parlament einen Bericht zu, der auf die ernste Situation Ungarn hinweist und die Aktivierung des Artikel 7 Verfahrens empfiehlt. Die Abgeordneten des Europäischen Parlaments werden am Mittwoch, den 12. September im Plenum darüber abstimmen, ob sie diesen Bericht unterstützen und damit das Artikel 7 Absatz 1- Verfahren des Vertrags über die Europäische Union unmittelbar in Kraft setzen.

Die Situation in Ungarn ist alarmierend. Wir fordern die Abgeordneten des Europäischen Parlaments auf, ihre wichtigste Aufgabe als gewählte Vertreter*innen im Dienste aller Menschen in Ungarn und in der EU zu erfüllen: für die Menschenrechte, die demokratischen Werte und die Rechtsstaatlichkeit einzutreten.

Wie funktioniert das Artikel 7 Verfahren?

Mit einer erforderlichen Zweidrittelmehrheit im Europäischen Parlament wird Artikel 7 Absatz 1 des Vertrags über die Europäische Union (EUV) unmittelbar in Kraft gesetzt. Damit wird auch der Rat der Europäischen Union aufgefordert, der ungarischen Regierung klarzumachen, dass ihre ungerechtfertigten Handlungen nicht toleriert werden.

Die Lage in Ungarn ist so ernst, dass eine außerordentliche Anwendung von Artikel 7 EUV gerechtfertigt ist. Sie gestattet der EU als einzige Maßnahme, Ungarn direkt aufzufordern, die Grundprinzipien der EU einzuhalten. Artikel 7 ermöglicht auch eine breitere Diskussion über die zahlreichen Bedenken, anstatt ständig mit einer neuen Klage vor dem Europäischen Gerichtshof zu gehen, wenn die ungarischen Behörden das EU-Recht missachten.

Der Bericht des Europaparlaments weist auf zahlreiche Gründe zur Besorgnis hin. Diese betreffen das Funktionieren des Verfassungswesens des Landes, die Unabhängigkeit der Justiz, die Meinungs- und Vereinigungsfreiheit sowie das Recht auf Gleichbehandlung, die Rechte von Angehörigen von Minderheiten und die Grundrechte von Migrant*innen, Asylsuchenden und Menschen auf der Flucht.

Die Aktivierung von Artikel 7 wird oft als die nukleare Option bezeichnet, weil sie zu Sanktionen wie der Aussetzung des ungarischen Stimmrechts im Rat führen könnte, wenn sich die Handlungen der ungarischen Regierung auf der Ebene des Europäischen Rates als "schwerwiegende und anhaltende Verstöße" gegen die Grundprinzipien der EU herausstellen.

Diese Sanktion muss jedoch keine unmittelbare Folge davon sein, oder auch das Ergebnis am Ende des Verfahrens bedeuten. Die EU nutzt durch das Artikel 7 Verfahren die ihr zur Verfügung stehenden Mechanismen, um für ihre Grundprinzipien einzustehen.  Die möglichen Ergebnisse des EU-Rates reichen in der Tat von einer einfachen Mahnung der ungarischen Regierung über ernsthafte Warnungen bis hin zu Sanktionen. Das Artikel 7 Verfahren wird in jedem Fall dafür Sorge tragen, dass zwischen den Mitgliedstaaten eine kritische Debatte stattfindet, die zu starken Empfehlungen im Namen des Rates führen sollte. Das kann die ungarischen Behörden dazu veranlassen, ihren Kurs wieder auf den gemeinsamen Weg der EU zu ändern.

Die Abgeordneten des Europäischen Parlaments müssen daher Stellung beziehen und die in den Grundtexten der Europäischen Union garantierten, hart erkämpften Freiheiten und Rechte weiterhin verteidigen. Es ist jetzt an der Zeit zu handeln.

Hintergrund

In den letzten Jahren hat die ungarische Regierung zahlreiche so genannte "Reformen" zur Beschneidung der Grundrechte und -freiheiten im Land durchgeführt. Die Fähigkeit des Verfassungsgerichts, die Regierung zur Rechenschaft zu ziehen, und die Unabhängigkeit der Justiz wurden dramatisch untergraben; NGOs und die akademische Gemeinschaft wurden mit strafrechtlichen willkürlichen Maßnahmen angegriffen; der Medienpluralismus ist stark zurückgegangen; die Protestmöglichkeiten der Menschen wurden eingeschränkt.

Der jüngste Jahresbericht von Amnesty International über Ungarn fängt die sich allmählich verschlechternde Menschenrechtssituation des Landes ein und verweist auf die ungerechtfertigte Behandlung von Menschen auf der Flucht und Migrant*innen sowie auf die Angriffe auf Universitäten und Nichtregierungsorganisationen, die ausländische Mittel erhalten.

Seit den Parlamentswahlen in Ungarn im vergangenen Frühling hat die regierende ungarische Fidesz-Partei ihre Kampagne gegen zivilgesellschaftliche Organisationen und ihre Angriffe auf die Grundrechte und -freiheiten intensiviert, die durch eine große Mehrheit im ungarischen Parlament sowie durch das fast völlige Schweigen ihrer Kolleg*innen der Europäischen Volkspartei im Europäischen Parlament und der Regierungschefs anderer EU-Länder verstärkt wurden.

Diese Hetzkampagne hat ihren Höhepunkt in jüngster Zeit mit der Verabschiedung von Gesetzen erreicht, die legitime  Arbeit im Asyl und Migrationsbereich von zivilgesellschaftlichen Organisationen, Aktivist*innen und Rechtsanwält*innen kriminalisieren und Organisationen, die Gelder aus dem Ausland erhalten, um ein Viertel ihres Einkommens berauben könnten.

Diese Tatsachen sind von den Abgeordneten des Europäischen Parlaments nicht unbemerkt geblieben, denn unzählige Organisationen, darunter die EU selbst, zahlreiche Gremien des Europarates und der Vereinten Nationen sowie die zivilgesellschaftlichen Organisationen, an deren Untergrabung Fidesz so hart arbeitet, haben in den letzten Jahren diese inakzeptablen Rückschläge bei den Grundrechten und der Rechtsstaatlichkeit in Ungarn genauestens unter die Lupe genommen und immer wieder darauf aufmerksam gemacht.