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Ich bin in Österreich. Ich habe es geschafft!

14. Juni 2016

Driss ist Mitte Zwanzig und wurde als eines von acht Kindern in einem Armenviertel von Casablanca, Marokko geboren. Er ist von Geburt an blind. Eigentlich, so sagt er, eine sichere Voraussetzung dafür, nie die Schule zu besuchen und nicht zu studieren. Nicht dort, wo er herkommt.

Dennoch ging Driss zur Schule. Sein älterer Bruder half ihm, eine Schule für blinde Kinder in Casablanca zu finden. Er absolvierte nicht nur die Schule, sondern ging auch als erster und bisher einziger seiner Familie auf die Universität und studierte Englische Literatur.

In seiner Schule formiert sich eine Gruppe von Aktivist*innen, die sich für die Rechte von blinden Menschen in Marokko einsetzen. Eine mutige Truppe, alle ganz oder teilweise blind, die konsequent mehr Rechte einfordert. Blinde Menschen sind in Marokko gesetzlich diskriminiert; so ist es ihnen etwa nicht möglich, ein Geschäft oder ein Konto zu eröffnen. Driss und seine Freund*innen fordern ein Ende dieser Schlechterstellungen. Ihre Forderungen werden jedoch nicht gehört. Die Polizei geht brutal gegen sie vor, Driss wird mehrfach auf der Polizeistation verprügelt und zuletzt persönlich verfolgt.

Irgendwann ist der Punkt erreicht, an dem klar wird, dass er zu seinem eigenen Schutz weg muss. In seinem Land gibt es kein selbstbestimmtes Leben für ihn. Seine Freunde und sein Bruder legen zusammen, für ein Flugticket nach Istanbul und etwas extra Geld für die Flucht über den Balkan. Driss macht sich alleine auf den Weg. 

Was hast du gemacht, als du in Istanbul angekommen bist?
Die erste Nacht habe ich im Hotel verbracht. Dann suchte ich im Internet nach Informationen, wie ich am besten weiter komme. Am nächsten Tag fuhr ich zum Taksim Platz, aber dort ist es gefährlich und mir wurde Geld gestohlen. Mit einer Gruppe von ca. 20 Personen versuchten wir über den Landweg nach Griechenland zu kommen.

Am nächsten Tag fuhr ich zum Taksim Platz, aber dort ist es gefährlich und mir wurde Geld gestohlen. Mit einer Gruppe von ca. 20 Personen versuchten wir über den Landweg nach Griechenland zu kommen.

Dabei haben uns griechische Grenzbeamte aufgegriffen und sie sagten, wir würden in ein Camp gebracht. Sie packten uns ins Auto, einer der Männer schlug mir ins Gesicht, und sie brachten uns an die Grenze und schickten uns zurück in die Türkei. Wir waren eine Woche in der Türkei in Haft und kamen dann frei. Anschließend fuhr ich nach Izmir, so wie alle. Dort fand ich einen Schmuggler und wir fuhren mit dem Schlauchboot nach Lesbos. Die Bootsfahrt war sehr beängstigend.“

Wenn Driss selbstbewusst im Amnesty-Office sitzt und seine Geschichte erzählt, vergisst man oft, dass er blind ist. Und dass er alleine über die Balkanroute geflohen ist.

Wie hast du dich orientiert?

Immer wieder hat mir jemand geholfen.

Wem kann man trauen?
Ich vertraue meinen Sinnen. Man kann niemand trauen. Mir wurde geholfen, ich wurde bestohlen, mir wurden Essensrationen abgeluxt und Menschen haben mich ein Stück weit auf der Reise begleitet. Ich fuhr durch Griechenland, Mazedonien, Serbien, Kroatien, Slowenien. Alles alleine, auf mich gestellt.

Ich vertraue meinen Sinnen. Man kann niemand trauen. [...] Ich fuhr durch Griechenland, Mazedonien, Serbien, Kroatien, Slowenien. Alles alleine, auf mich gestellt.

Als Driss in Spielfeld über die Grenze kommt, gibt er zu verstehen, dass er bleiben und um Asyl ansuchen möchte. Es war der 30. November 2015. Seine Reise von Marokko nach Österreich dauerte gute zwei Monate, jetzt ist er am Ziel.

Sein erster Kontakt mit dem offiziellen Österreich: Seine Behinderung wird nicht weiter beachtet. Er beantragt Asyl auf der Polizeistation, wird dort einige Stunden festgehalten, erhält ein Zugticket nach Wien und landet im Ferry Dusika Stadion. Eine Notunterkunft für hunderte Flüchtlinge, die gewiss nicht auf besondere Bedürfnisse von Blinden ausgelegt ist. Driss hat dort eine harte Zeit, wie er sagt. „Es gab Streit, Menschen haben mit Rasierklingen gekämpft. Ich wurde in der Umkleidekabine untergebracht, gemeinsam mit einem zweiten Mann. Ich schlief auf einer Matte am Boden, aber es war schwierig mich zurechtzufinden, denn überall am Boden lagen Menschen. Ich war einen Monat dort.“ Eine freiwillige Helferin verschafft ihm letztendlich einen Platz in einem von der Diakonie geführten Haus.

Driss ist im Asylverfahren, er wartet auf sein abschließendes Interview, darauf, endlich Gewissheit über seine Zukunft zu erlangen. Die Sicherheit, dass er in Österreich bleiben und sein neues Leben starten kann.

Welche Ziele hast du für die Zukunft?
Ich will weiter studieren, Sprachen. Später würde ich gerne dolmetschen und in einer transkulturellen Organisation meinen Blick auf die Dinge einbringen.

Driss hat sich Österreich ausgesucht, in kein anderes Land wollte er. 
„Wieso?“  
„Weil es ein stabiles Land ist, ein Land der Kultur, der Musik - und ruhig, niemals in den Medien.“

Heute noch, so sagt er, wenn er die Straßen entlang geht und Stimmen Deutsch sprechen hört, freut er sich. Er ist jetzt in Österreich. Er hat es geschafft.