
Belarus Proteste 2020: Warum Tausende Menschen gegen Lukaschenka auf die Straße gehen
Zuletzt aktualisiert am 8.8.2025
Nach der Präsidentschaftswahl in Belarus im August 2020 gingen Hunderttausende Menschen auf die Straßen, um gegen Präsident Aljaksandr Lukaschenka zu demonstrieren. Die Polizei versuchte monatelang, die Proteste niederzuschlagen und ging brutal gegen friedlich Demonstrierende vor. Tausende Menschen wurden festgenommen.
Amnesty liegen Berichte über Misshandlungen, Folter und Verschwindenlassen vor. Auch Journalist*innen, die versuchen über die Proteste in Belarus zu berichten, werden von den Behörden verfolgt. Der systematische Einsatz repressiver Maßnahmen, einschließlich willkürlicher Verhaftungen, Folter und anderer Misshandlungen sowie die effektive Kriminalisierung kritischer Äußerungen, zeichnet ein düsteres Bild der heutigen Menschenrechtslage in Belarus.
Wie kam es zu den Massenprotesten? Wie ist die menschenrechtliche Lage in Belarus? Und wie können wir die Menschen in Belarus schützen und ihren Kampf für Freiheit unterstützen? Ein Überblick.
> Was ist der Hintergrund der Massenproteste 2020 in Belarus?
> Was ist seit den Protesten 2020 passiert?
> Wer ist Präsident Aljaksandr Lukaschenka?
> Wie prägen Polizeigewalt und Verhaftungen die Proteste in Belarus?
> Welche Belege gibt es für Folter und Verschwindenlassen von Demonstrierenden?
> Welche besondere Rolle spielen Frauen bei den Protesten in Belarus?
> Wer ist Maryia Kalesnikava?
> Wie ist die Situation für Journalist*innen im Land, die von den Protesten berichten?
> Wie wirken sich Internetsperren und Überwachung auf die belarussische Zivilgesellschaft aus?
> Fakten: Die menschenrechtliche Situation in Belarus
> Was kann Amnesty und jede*r einzelne tun, um die Menschen in Belarus zu schützen?
Was ist der Hintergrund der Proteste in Belarus?
Proteste gegen Präsident Lukaschenka und sein Regime gab es auch bereits vor den Präsidentschaftswahlen 2020. Nach den Wahlen im August 2020 entwickelten sich die Proteste jedoch zu Massendemonstrationen. Aljaksandr Lukaschenka war mit 79 Prozent der Stimmen zum Sieger der Wahl erklärt worden. Die in der Bevölkerung sehr populäre Oppositionskandidatin Svyatlana Tsikhanouskaya (Svetlana Tichanowskaja) habe nur 6,9 Prozent der Stimmen erhalten, so die belarusische Wahlkommission. Unabhängige Wahlbeoabachter*innen und die Europäische Union sehen das Wahlergebnis als gefälscht an.
In der Vergangenheit ist es in Belarus, vor allem nach Wahlen, regelmäßig zu großen Protesten gekommen. Der Vorwurf der Wahlfälschung löste etwa in den Jahren 2006 und 2010 ebenfalls große Proteste nach den Präsidentschaftswahlen aus. Aber Präsident Lukaschenka konnte sie jedes Mal unterdrücken. Friedlicher Protest wurde mit hohen Geldstrafen geahndet und mit willkürlicher Inhaftierung beantwortet. Demonstrierende wurden, oft unter Anwendung übermäßiger Gewalt, verhaftet.
Seit dem Beginn des Wahlkampfes im Mai 2020 hat Amnesty International eine dramatische Zunahme bei der Verfolgung von Oppositionellen, Medienschaffenden und Protestierenden in Belarus beobachtet. Dennoch war die Unterstützung für Oppositionskandidat*innen und die Mobilisierung ihrer Anhängerschaft im öffentlichen Raum so hoch wie seit Jahren nicht.
Auch der Umgang der Regierung Lukaschenkas mit der Covid-19-Pandemie dürfte diesmal dazu beigetragen haben, dass die Proteste 2020 stärker ausgefallen sind als in der Vergangenheit. „Vor der Pandemie war man, sofern man sich loyal zu Lukaschenka verhielt, relativ sicher: Sicher vor dem Gefängnis oder vor dem Verlust des Arbeitsplatzes“, sagt Wolha Karatsch, Menschenrechtsaktivistin und Gründerin der lokalen Menschenrechtsorganisation "Nash Dom", und sagt weiter:
Während der Pandemie mussten aber genau jene loyalen Bediensteten weiterarbeiten. Sie waren daher am meisten von den Ansteckungen betroffen. Alle, die Lukaschenka kritisch gegenüberstehen, haben sich selbst zuhause isoliert, um sich zu schützen. Das Resultat war, dass vor allem viele Menschen erkrankten, die im staatlichen Sektor arbeiten. Lukaschenka verschärfte die Situation und Empörung noch, weil er zahlreiche Massenveranstaltungen abhielt. Er machte sich außerdem über die Erkrankten lustig und sagte, sie seien an Fettleibigkeit oder Altersschwäche gestorben.
Wolha Karatsch, Menschenrechtsaktivistin und Gründerin der lokalen Menschenrechtsorganisation "Nash Dom"
Politischen Gefangenen heute
50.000
Menschen wurden für ihre Teilnahme an den Protesten willkürlich inhaftiert
Langzeitherrscher
31 Jahre
ist Aljaksandr Lukaschenka bereits an der Macht
Seit Sommer 2020
100.000
Menschen gingen nach den Präsidentschaftswahlen auf die Straße
Was ist seit den Protesten 2020 passiert?
Seit den Präsidentschaftswahlen 2020 hat sich die ohnehin schon tiefe Menschenrechtskrise in Belarus noch weiter verschärft. Durch eine brutale Kampagne gegen jede Art von Dissens haben die Behörden ein erstickendes Klima der Angst geschaffen, das alles und jeden zum Schweigen bringt, der*die die Regierung herausfordert. Die belarussischen Behörden gehen unerbittlich gegen Andersdenkende vor. Friedliche Proteste werden von der Polizei und anderen Strafverfolgungsbehörden mit unrechtmäßiger Gewalt beantwortet.
Nach Angaben belarussischer Menschenrechtsbeobachter*innen wurden seit 2020 mehr als 50.000 Menschen (Stand August 2025) wegen ihrer Teilnahme an friedlichen Protesten oder ihrer Beteiligung daran willkürlich inhaftiert, 6.550 wurden strafrechtlich verfolgt und verurteilt und 3.697 zu Haftstrafen verurteilt. Viele wurden gefoltert und anderweitig misshandelt. Mindestens sieben politische Gefangene sind seit 2021 in Haft gestorben, fünf von ihnen allein im Jahr 2024. Diese Todesfälle waren vermeidbar und sind das Ergebnis der Haftbedingungen und der unzureichenden medizinischen Versorgung.
Dieses Vorgehen hat sich im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen 2025 noch verschärft, wobei die Behörden abweichende Personen und Gruppen aus allen Teilen der Gesellschaft direkt oder über ihre Angehörigen ins Visier nehmen.
Als Folge der Repressionen befindet sich heute ein Großteil der belarussischen Demokratiebewegung im Ausland. Von dort aus machen sie auf ihre Situation aufmerksam, indem sie über Menschenrechtsverletzungen in Belarus berichten und Hilfe von westlichen Ländern und internationalen Organisationen erbitten.
Ein zentrales Organ ist dabei der Koordinierungsrat, der auf Anregung von Svyatlana Tsikhanouskaya während der landesweiten Proteste im Jahr 2020 eingerichtet wurde. Ziel des Rats ist es, die Interessen der Opposition zu vertreten und sich für demokratische Wahlen und einen friedlichen Machtwechsel in Belarus einzusetzen.
Eine der größten Herausforderungen bei der Arbeit der belarussischen Opposition im Exil ist es, die Einheit sowohl in den eigenen Reihen als auch mit der Bevölkerung in Belarus aufrechtzuerhalten.
Wer ist Präsident Aljaksandr Lukaschenka?
Präsident Aljaksandr Lukaschenka (Alexander Lukaschenko) ist seit 1994 Staatsoberhaupt der Republik Belarus (Weißrussland). Wegen seines autoritären Regierungsstils gilt er als letzter Diktator Europas. Seit 31 Jahren regiert Lukaschenka die ehemalige Sowjetrepublik mit eiserner Hand. Seine Regierung unterdrückt die Zivilgesellschaft und alle kritischen Stimmen. Um im Amt zu bleiben, setzt Lukaschenka auf Gewalt. Aufgrund des Verdachts der Wahlfälschung bei der Wahl im August 2020 erkennen die EU und andere Staaten wie die USA, Lukaschenka nicht mehr als Präsidenten an.
Wie prägen Polizeigewalt und Verhaftungen die Proteste in Belarus?
Amnesty International war seit Beginn der Proteste vor Ort und hat das brutale Vorgehen der Sicherheitskräfte gegen die friedlich demonstrierende Bevölkerung von Belarus dokumentiert.
In den ersten drei Tagen nach der Wahl in Belarus (9.–12. August 2020) reagierten die Behörden mit vielen Verhaftungen, Schikanen und Einschüchterung. Die Polizei setzte Gummigeschosse, Stuntgranaten, Tränengas und Wasserwerfer gegen die Demonstrant*innen ein. Im Laufe dieser drei Tage wurden mehr als 6.700 Menschen festgenommen. Hunderte Inhaftierte berichteten über Folterungen und andere Misshandlungen in Polizeistationen und Haftanstalten.
Die Welle der Gewalt und Unterdrückung, mit der die Behörden auf die friedlichen Proteste reagierten, schienen nur noch mehr Menschen auf die Straßen zu treiben: Am 30. August 2020 fand in Belarus eine der größten Protestkundgebungen in der modernen Geschichte des Landes statt. In Minsk und anderen Städten nahmen mindestens 100.000 Menschen an den Demonstrationen teil, die den Rücktritt des Präsidenten und die Untersuchung von Menschenrechtsverletzungen forderten. Allein am 30. August wurden mindestens 140 friedliche Demonstrant*innen festgenommen. Mehrere hochrangige Mitglieder des Koordinierungsrates der Opposition wurden wegen dubioser strafrechtlicher Vorwürfe verhaftet.
Seit dem Beginn der Proteste wurden mindestens zwei Todesfälle bestätigt. Der erste Protestteilnehmer starb am 11. August, als die Polizei in Minsk mit Blendgranaten und Tränengas in die Menge feuerte. Am 12. August starb ein 25-jähriger Mann in der Haft in Brest. Am selben Tag schoss in Brest die Polizei mit scharfer Munition auf Protestierende. Zuvor war am 9. August der Tod einer weiteren Person gemeldet worden, die, wie eine Videoaufnahme bestätigte, in Minsk von einem Polizeiauto überfahren wurde und leblos auf dem Boden lag, während die Polizei weiterfuhr. Bis heute ist nicht geklärt, was mit dem Opfer bzw. dem Leichnam geschehen ist.
Video: Die Polizei wendet bei Protesten in Belarus nach Wahl 2020 unverhältnismäßige gewalt an
Im Herbst 2020 rissen weder der Protest noch die Polizeigewalt in Belarus ab. Amnesty International fordert von den Behörden in Belarus, die Polizeigewalt unverzüglich einzustellen und die schweren Menschenrechtsverletzungen zu untersuchen. "Die belarussischen Behörden haben sich bisher geweigert, mit den Demonstrant*innen in einen Dialog zu treten und sie haben bisher auch noch nichts unternommen, um die schweren Menschenrechtsverletzungen zu untersuchen, die von der Polizei begangen wurden", sagt Marie Struthers, Direktorin für Osteuropa und Zentralasien bei Amnesty International.
Bemerkenswert bei den Protesten in Belarus ist das hohe Maß an Zurückhaltung, dass die friedlich Demonstrierenden an den Tag legen. Im Gegensatz zu denen, die sie regieren, haben die Menschen in Belarus außergewöhnliche Zurückhaltung gezeigt und einzigartig friedliche Kundgebungen abgehalten. Zehntausende Demonstrierende, die durch die Hauptstadt Minsk und andere Städte marschierten, räumten sogar den Müll von den Straßen auf und zogen ihre Schuhe aus, als sie auf Bänke kletterten.
Im krassen Gegensatz dazu steht das gewalttätige und maßlose Vorgehen der Polizei, der Sondereinsatzkräfte OMON und der belarussischen Behörden gegen die friedlich Demonstrierenden, das von einer Kultur der Straflosigkeit innerhalb der belarussischen Polizei begünstigt wird:
Unseren Informationen zufolge wurde kein einziges Strafverfahren gegen die Polizei eröffnet, die Hunderte friedlich Demonstrierende gefoltert hat. Gleichzeitig wurden Dutzende Strafverfahren gegen Demonstrierende eingeleitet, oft ohne glaubwürdige Beweise für ihr Fehlverhalten. Die Menschen in Belarus fordern auf friedlichem Wege Rechenschaft, um diese gefährliche Kultur der Straflosigkeit zu beenden.
Marie Struthers, Direktorin für Osteuropa und Zentralasien bei Amnesty International
Im Oktober 2020 drohte der Innenminister von Belarus den Demonstrierenden mit scharfer Munition. Die Drohung konnte Zehntausende, und teils sogar mehr als 100.000 Demonstrierende, nicht davon abhalten, erneut auf die Straße zu gehen.
Bei Protesten am 1. November 2020 wurden erneut mehrere hundert Menschen festgenommen, die friedlich gegen Staatschef Aljaksandr Lukaschenka protestiert hatten. Die Behörden leiteten gegen 231 von ihnen ein Massenverfahren ein – den Betroffenen drohten bis zu drei Jahren Haft. Sie wurden beschuldigt, „Aktivitäten organisiert oder vorbereitet zu haben, die die öffentliche Ordnung massiv stören“. Den Ermittlungen zufolge nahmen die Betroffenen an einer „unerlaubten Aktion“ teil, die „Schäden an städtischen Einrichtungen und an einem Polizeifahrzeug“ verursacht sowie „den öffentlichen Verkehr und die Arbeit von Organisationen behindert“ haben soll.
Welche Belege gibt es für Folter und Verschwindenlassen von Demonstrierenden?
Amnesty hat Folter und andere schwere Misshandlungen gegen friedlich Demonstrierende in Haft in Belarus dokumentiert. Amnesty und lokale Menschenrechtsorganisationen haben mit Menschen im Land gesprochen, die an Protesten teilgenommen und dafür in Hafteinrichtungen gefoltert oder anderweitig misshandelt wurden. Betroffene berichteten beispielsweise, geschlagen oder mit Vergewaltigung bedroht worden zu sein, oder dass man sie gezwungen habe, sich auszuziehen.
Alles deutet darauf hin, dass die Behörden in Belarus gezielt und großflächig Gebrauch von Folter und anderen Formen der Misshandlung machen, um die Proteste um jeden Preis zu unterdrücken. Demonstrierende, die sich vor einer Hafteinrichtung in Minsk versammelt hatten, sagten, sie konnten die Schreie der Folteropfer bis nach draußen hören. Videoaufnahmen bestätigen ihre Aussagen.
Die Recherchen von Amnesty International machen deutlich, dass die brutalen Szenen in den Straßen von Belarus lediglich die Spitze des Eisbergs sind. Personen, die in Haft waren, gaben an, dass die Hafteinrichtungen Folterkammern gleichen, in denen Protestierende auf dem Boden liegen müssen, während sie von Sicherheitskräften getreten und mit Schlagstöcken malträtiert werden. Sie beschrieben, wie sie sich ausziehen mussten und dann auf sadistische Weise geschlagen wurden, während sie die Schreie anderer Betroffener hören konnten. Es handelt sich hierbei um Menschen, deren einziges "Vergehen" es ist, sich an friedlichen Protesten zu beteiligen.
Die Menschenrechtsorganisation Viasna hat Nachweise dafür gesammelt, dass sich Gefangene auf manchen Polizeistationen mehrere Stunden lang mit dem Gesicht nach unten auf den Boden legen oder gegen eine Wand stellen mussten, und bei der kleinsten Bewegung geschlagen wurden. Die Aussagen zahlreicher Menschen sowie nach draußen geschmuggelte Videoaufnahmen bestätigen das.
Aus dem ganzen Land liegen unzählige Folterberichte vor, die durch Video- und Bildaufnahmen auf Social Media belegt werden. Es deutet daher alles darauf hin, dass dieser Ansatz von höchster Stelle angeordnet wurde.
Demonstrierende, die bei Protesten festgenommen wurden, sind nach ihrer Inhaftierung verschwunden. Menschen, die friedlich demonstriert haben, und auch Passant*innen werden ohne Kontakt zur Außenwelt in Haft gehalten, was einen Verstoß gegen grundlegende Verfahrensvorschriften und die vollkommene Missachtung ihrer Menschenrechte darstellt. Viele Menschen waren Opfer von Verschwindenlassen, was ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellt.
Familienangehörige und Rechtsbeistände von Dutzenden Gefangenen haben erfolglos versucht, deren Verbleib in Erfahrung zu bringen. Am 12. August 2020 ging die Einsatzpolizei mit Gewalt gegen ca. 200 Verwandte von Inhaftierten vor, die sich friedlich vor der Hafteinrichtung Akrestsyna versammelt hatten.
Proteste in Belarus
Welche besondere Rolle spielen Frauen bei den Protesten in Belarus?
Frauen spielen bei den Demonstrationen in Minsk und anderen belarussischen Städten eine zentrale Rolle: Bei den Protesten sind mehr Frauen als in den letzten Jahren vertreten und sie übernehmen eine aktivere Rolle in der Organisation der Demonstrationen. Die Repressionen der belarussischen Behörden richten sich auch überproportional oft gegen Frauen, die sich politisch betätigen oder Angehörige von politischen Aktivist*innen sind. So liegen Amnesty International Berichte vor, nach denen politisch engagierten Frauen sexuelle Gewalt oder der Entzug der Kinder unter Nutzung eines Präsidialdekretes zum "Schutz von Kindern aus benachteiligten Familien" angedroht wurde.
Die Repressionen hielten die Frauen in Belarus aber nicht davon ab, bei den Protesten in Belarus ihre Stimme zu erheben. Als "Marsch der Solidarität" fand ab Sommer 2020 immer samstags eine Frauendemo statt, die auch zur Unterstützung der Oppositionellen Svyatlana Tsikhanouskaya dient. Bilder von Frauen, die mit Blumen demonstrieren, gingen um die Welt, und ebenso die Polizeigewalt, auf die sie gestoßen sind. Im September 2020 wurden hunderte Frauen während eines friedlichen Protests festgenommen.
Eines der der bekanntesten weiblichen Gesichter des Protests in Belarus ist Nina Bahinskaya, die ebenfalls im September 2020 verhaftet wurde. Mit 73 Jahren geht die Pensionistin aus Minsk auf die Straße und stellt sich vermummten Polizeikräften und ihren Schlagstöcken entgegen. Durch ihren unerschrockenen Kampf gegen die Regierung Lukaschenka wurde Nina Bahinskaya zur Ikone der derzeitigen Protestbewegung. Aktivist*in ist sie bereits seit den 1980er Jahren.
Video: Hunderte frauen, darunter die 73-jährige Nina Baginskaya, wurden von der polizei festgenommen
Wer ist Maryia Kalesnikava?
Maryia Kalesnikava unterstützte gemeinsam mit Weranika Zepkala bei den belarusischen Präsidentschaftswahlen 2020 die unabhängige Kandidatin Svyatlana Tsikhanouskaya. Die drei Frauen inspirierten viele Menschen, sich für ein freies Belarus einzusetzen.
Nachdem die belarusischen Behörden unter dem Regime von Aljaksandr Lukaschenka Weranika und Svyatlana ins Exil gezwungen hatten, wurde Maryia die zentrale Figur der Opposition. Sie stand an der Spitze friedlicher Proteste.
Doch im September 2020 wurde Maryia von maskierten Männern entführt und zur Landesgrenze gebracht. Sie weigerte sich, das Land zu verlassen und zerriss ihren Pass, um einer Ausweisung zu entgehen. Daraufhin wurde sie inhaftiert und später zu elf Jahren Gefängnis verurteilt.
Journalist*innen, die versuchen über die Proteste in Belarus zu berichten, riskieren, für ihre Arbeit ins Gefängnis zu kommen. Sie werden eingeschüchtert und verfolgt. Journalist*innen wurden verhaftet, geschlagen und mit Gummigeschossen beschossen. Auch Kameras wurden zerschlagen und Filmmaterial gelöscht.
Laut dem belarussischen Journalist*innenverband wurden mindestens 55 Journalist*innen festgenommen (Stand 12. August 2020). Dabei wurden sowohl lokale als auch internationale Journalist*innen ins Visier genommen: Am Abend des 11. August 2020 griffen Sicherheitskräfte in Minsk ein Fernsehteam des russischen Dienstes der BBC an. Die Journalist*innen trugen alle Ausweiswesten und hatten offizielle Akkreditierungskarten. Mehrere Männer in unmarkierten schwarzen Uniformen verlangten Einsicht in die Akkreditierung der Journalist*innen. Ein Mann riss einer Korrespondentin die Karte vom Hals, entriss ihr die Kamera und versuchte, sie zu beschädigen. Die Männer schlugen daraufhin einen anderen BBC-Journalisten und schlugen ebenfalls mehrmals auf seine Kamera ein. In diesem Fall wurden die Journalist*innen nicht festgenommen.
Journalist*innen in Belarus leisten heldenhafte Arbeit, um sicherzustellen, dass die Welt von der brutalen Unterdrückung der Proteste durch die Behörden erfährt. Es ist erschreckend zu sehen, wie weit die Regierung geht, um diese Informationen zu unterdrücken.
Marie Struthers, Direktorin für Osteuropa und Zentralasien bei Amnesty International
Am ersten Tag der Proteste 2020 schossen Männer in Tarnuniformen ein Gummigeschoss auf Natalja Lubneuskaya, eine Reporterin von Nascha Niva, und verwundeten sie am Bein. Nascha Niva ist eine der wenigen unabhängigen Medien in Belarus. Ihre Mitarbeiter*innen sind seit Jahren den Schikanen der Behörden ausgesetzt.
Weitere Journalist*innen und Medien, die über Angriffe berichtet haben, sind: Vadzim Zamirouski, Darya Burakina und Usevalad Zarubin von Tut.by, der meistgesehenen belarusischen Nachrichtenseite; der Associated Press-Fotograf Syarhei Hryts; die Nasha Niva-Reporterin Nadzeya Buzhan; die Onlinereporter Uladzislau Barysavich und Syarhei Ptushka sowie die Belsat-Reporter Pavel Patapau und Ivan Murauyou.
Der Missbrauch der Anti-Extremismus-Gesetzgebung ist zum Eckpfeiler der Strategie der Regierung zur Unterdrückung abweichender Meinungen geworden. Bis Ende 2024 wurden 6.565 Online-Ressourcen, von persönlichen Konten auf Social-Media bis hin zu unabhängigen Medien und internationalen Nachrichtenorganisationen, willkürlich als „extremistisch“ eingestuft. Einzelpersonen drohen schwere Strafen, darunter hohe Geldstrafen, wenn sie mit diesen Organisationen in Verbindung treten.
Wie wirken sich Internetsperren und Überwachung auf die belarussische Zivilgesellschaft aus?
Als die Proteste in Belarus im August 2020 begannen, war das mobile Internet drei Tage lang beinahe komplett lahmgelegt. Während am Morgen des 9. August 2020 in Belarus die Wahllokale öffneten, waren immer mehr Webseiten nicht erreichbar. Mittags kamen die Social-Media-Dienste hinzu. Am Abend betrafen die Störungen das ganze Land. Im Internet in Belarus ging das Licht aus. Seither gibt es immer wieder Störungen des Netzes.
Es wird vermutet, dass die Regierung den Zugang zum Internet absichtlich blockiert und die Arbeit von Telekommunikationsunternehmen beeinträchtigt. Das hindert die Menschen in Belarus daran, ihre Rechte auf freie Meinungsäußerung und friedliche Versammlung auszuüben. Die Menschen haben außerdem weniger Möglichkeiten, Informationen zu beschaffen, zu erhalten und weiterzugeben.
Für staatliche Eingriffe in Menschenrechte – dazu gehört der Internetzugang als Teil der Meinungs- und Informationsfreiheit – gibt es völkerrechtliche Regeln. Sie müssen notwendig und verhältnismäßig zum Erreichen eines legitimen Zieles sein. Ein Shutdown des Internets insgesamt oder großer Teile davon wird nie zu rechtfertigen sein.
Bereits vor Ausbruch der Proteste im Herbst 2020 berichteten Menschenrechtsverteidiger*innen in Belarus Amnesty International von Überwachung ihrer digitalen Kommunikation. Aufgrund der umfassenden Überwachung ihrer digitalen Geräte und Wohnungen träfen sie sich für wichtigen Informationsaustausch draußen. Selbst Treffpunkt und Zeiten für solche Treffen würden ebenfalls im öffentlichen Raum besprochen, da sie die Erfahrung gemacht hätten, dass die Polizei aufgrund der Kommunikationsüberwachung sonst bereits am Treffpunkt warte.
Fakten: Die menschenrechtliche Situation in Belarus
Belarus vollstreckt die Todesstrafe
Belarus ist das einzige Land in Europa und auf dem Gebiet der früheren Sowjetunion, in dem die Todesstrafe noch verhängt und vollstreckt wird. 2019 ergingen drei Todesurteile und mindestens drei Gefangene wurden hingerichtet. Daten zur Todesstrafe werden in Belarus als Staatsgeheimnis gehandhabt. Ein deutscher Staatsangehöriger, Rico Krieger, wurde im Juli 2024 wegen mehrerer Straftaten, darunter Spionage und Söldnertätigkeit, zum Tode verurteilt. Er wurde später begnadigt und am 1. August 2024 im Rahmen eines zwischen Russland und mehreren westlichen Ländern vereinbarten Gefangenenaustauschs freigelassen.
Pressefreiheit, Meinungsfreiheit & Versammlungsfreiheit in Belarus
Die Meinungsfreiheit in Belarus ist per Gesetz und in der Praxis stark eingeschränkt. Regierungskritiker*innen und andere abweichende Stimmen sind Schikanen und anderen Repressalien seitens der Behörden ausgesetzt.
Die offizielle Liste von Veröffentlichungen in Online-, Druck- und Rundfunk-Medien, die laut Behörden „extremistische Inhalte“ aufwiesen, wächst. Jeden Monat werden Hunderte von Personen willkürlich in die „Liste der an extremistischen Aktivitäten beteiligten Personen“ aufgenommen, die im Dezember 2024 4.707 Personen umfasste. Ende des Jahres 2024 befanden sich 45 Medienschaffende aufgrund ihrer beruflichen Tätigkeit im Gefängnis.
Die Unterdrückung zivilgesellschaftlicher Organisationen, einschließlich unabhängiger NGO’s, Gewerkschaften und ethnischer und religiöser Gemeinschaften, eskaliert. Mindestens 329 Organisationen wurden im Jahr 2024 aufgelöst oder befanden sich im Auflösungsprozess.
Die Menschenrechtsverteidigerin und Symbolfigur der Protestbewegung aus dem Jahr 2020, die 73-jährige Nina Bahinskaya, wurde im Oktober willkürlich festgenommen, weil sie mit dem Plakat einer willkürlich verbotenen politischen Partei demonstrierte. Die Polizei hielt sie drei Stunden lang in Handschellen fest.
Unterdrückung der Opposition durch die Justiz
Die belarussische Staatsführung unter Aljaksandr Lukaschenka duldet keine Meinung, die sie kritisiert. Friedliche Oppositionelle werden verfolgt und inhaftiert, unter dem Vorwand eine Bedrohung für die nationale Sicherheit darzustellen. Die Behörden missbrauchen das Justizsystem zur Unterdrückung friedlicher Andersdenkender und nehmen unter anderem politische Gegner*innen, Menschenrechtsverteidiger*innen, Aktivist*innen und Rechtsanwält*innen ins Visier. Prozesse in Abwesenheit sind an der Tagesordnung. Im Juli 2024 wurden 20 im Exil lebende politische Analyst*innen und Journalist*innen, die mit der Oppositionsführerin Svyatlana Tsikhanouskaya in Verbindung stehen, wegen Verbrechen gegen den Staat und „Extremismus“ zu Haftstrafen zwischen 10 und 11,5 Jahren verurteilt.
Vorwurf der Sklaverei
Es liegen glaubhafte Beweise vor, dass Tausende von Kindern und Jugendlichen wegen geringfügiger Drogendelikte zu langen Haftstrafen verurteilt wurden. Viele erhielten keine fairen Gerichtsverfahren, und gerade einmal 16-jährige Kinder wurden gemäß Artikel 328 des Strafgesetzbuches wegen illegalen Drogenhandels als Mitglieder “krimineller Gruppen” bis zu elf Jahren inhaftiert. In der Haft werden sie als billige Arbeitskräfte ausgebeutet.
Diskriminierung von Minderheiten in Belarus
Schutzbedürftige Bevölkerungsgruppen wie Rom*nja sowie Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender, queere, Intergeschlechtliche und agender (LGBTQIA+) sind in Belarus von Diskriminierung bedroht. Es herrscht ein Klima der Angst und Selbstzensur. Rom*nja werden vor allem in den Bereichen Beschäftigung und Bildung sozial benachteiligt. Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender, queere, Intergeschlechtliche und agender (LGBTQIA+) sind Schikanen ausgesetzt, darunter auch diskriminierende und stigmatisierende Äußerungen von Staatsbeamt*innen.
Was kann Amnesty und jede*r einzelne tun, um die Menschen in Belarus zu schützen?
Amnesty International fordert die belarussischen Behörden auf, ihre brutale Repressionskampagne gegen jede Art von Dissens, die der belarussischen Bevölkerung im Vorfeld der für den 26. Januar 2025 angesetzten Präsidentschaftswahlen die freie Meinungsäußerung verwehrt, unverzüglich zu beenden.
Wir fordern, dass die Menschen und ihre Rechte in Belarus geschützt werden! Amnesty International fordert die Behörden von Belarus außerdem auf, die Folterung und andere Misshandlung von Gefangenen sofort zu beenden und alle willkürlich inhaftierten Personen umgehend freizulassen.
Wir fordern insbesondere die Freilassung von Maryia Kalesnikava, die zur Symbolfigur der friedlichen Proteste 2020 wurde. Sowie Ales Bialiatski, dem Vorsitzenden der Menschenrechtsorganisation Viasna und seine Kolleg*innen, die aufgrund ihres Einsatzes für Menschenrechte in Belarus zu Unrecht inhaftiert sind.
Die Regierung muss die Pressefreiheit respektieren und Journalist*innen, die ausschließlich wegen der Ausübung ihres Berufs inhaftiert sind, unverzüglich und bedingungslos freilassen. Sie muss sicherstellen, dass die Rechte des belarussischen Volkes auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit uneingeschränkt geachtet werden. Die Behörden müssen alle friedlich Demonstrierenden freilassen, die ausschließlich wegen der Ausübung ihrer Rechte auf freie Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit inhaftiert sind. Die rechtswidrige Gewalt der Polizei muss untersucht werden. Alle Personen, die Menschenrechtsverletzungen begangen haben oder daran beteiligt waren, müssen vor Gericht gestellt werden. Amnesty fordert Staats- und Regierungschef*innen auf, Druck auf die Regierung von Belarus auszuüben, um diese entsetzlichen Menschenrechtsverletzungen zu stoppen.
Regierungen und internationale Organisationen müssen entschlossen handeln, um ein sofortiges Ende dieser anhaltenden Krise zu erreichen und die belarussischen Behörden dafür zur Rechenschaft zu ziehen.
Danke an alle Unterzeichner*innen der Petition, die sich mit ihrer Stimme für die Menschen in Belarus eingesetzt haben!
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