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Presse © Amnesty International

Todesfalle Rakka

25. April 2019

Zusammenfassung

  • Aktuelle Recherchen von Amnesty International und Airwars zeigen: Über 1.600 Zivilist*innen starben durch Angriffe der US-geführten Militärkoalition
  • Es handelt sich um eine der umfangreichsten Untersuchungen über zivile Todesopfer eines modernen Konflikts
  • US-amerikanische, britische und französische Streitkräfte geben bisher nur 10 Prozent der Tötungen zu

Amnesty International und die Londoner Non-Profit-Organisation Airwars stellen heute ihr neues Datenprojekt vor: Untersucht wurde das Ausmaß der Zerstörung und die Zahl ziviler Todesopfer während der Militäroffensive auf die syrische Stadt Rakka im Jahr 2017. Die Offensive hatte das Ziel, die bewaffnete Gruppe Islamischer Staat (IS) zurückzudrängen. Die Recherchen belegen mehr als 1.600 zivile Todesopfer durch die US-geführte Militärkoalition.

Die Militärkoalition hat bisher die Verantwortung für den Tod von 159 Zivilist*innen übernommen, was zehn Prozent der ermittelten Gesamtopferzahl entspricht. Amnesty und Airwars fordern, dass die Militärkoalition nach fast zwei Jahren damit aufhört, die Folgen ihrer Offensive in Rakka abzustreiten.

Die interaktive Website „Rhetoric versus Reality: How the ‘most precise air campaign in history’ left Raqqa the most destroyed city in modern times“ ist das Ergebnis einer der umfangreichsten Untersuchungen über zivile Todesopfer eines modernen Konflikts. Fast zwei Jahre wurde dafür recherchiert. Die Webseite zeigt, was mehr als 1.600 zivile Todesopfer bedeuten.

Viele der von Amnesty International dokumentierten Fälle stellen wahrscheinlich Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht dar und müssen eingehender untersucht werden.

Willkürliche Artillerieattacken

„Während der US-geführten Offensive, die Rakka vom IS befreien sollte, wurden Tausende Zivilist*innen getötet oder verletzt. Scharfschützen und Minen des IS verwandelten die Stadt in eine Todesfalle“, sagt Donatella Rovera, Senior Crisis Response Adviser bei Amnesty International.

Viele Bombenangriffe waren ungenau, Zehntausende Artillerieattacken erfolgten willkürlich. Es ist also kein Wunder, dass so viele Zivilist*innen getötet und verletzt wurden.

Donatella Rovera, Senior Crisis Response Adviser bei Amnesty International

Trotz größter Anstrengungen werden zivilgesellschaftliche Organisationen wie Amnesty International und Airwars nie über die notwendigen Ressourcen verfügen, um das gesamte Ausmaß der Todesfälle und Verletzungen unter der Zivilbevölkerung Rakkas ermitteln zu können.

Vor diesem Hintergrund fordern Amnesty und Airwars

  • Von den Mitgliedern der US-geführten Militärkoalition den Einsatz einer unabhängigen und unparteiischen Instanz, die effektiv und zeitnah die Berichte über zivile Opfer – einschließlich damit einhergehender Verletzungen des humanitären Völkerrechts – überprüft und die Ergebnisse öffentlich macht.

  • Von den an Luft- und Artillerieangriffen beteiligten Mitgliedern der Militärkoalition, insbesondere den USA, Großbritannien und Frankreich, Transparenz: zum einen in Bezug auf Taktik, Mittel und Methoden ihrer Angriffe sowie die Auswahl der Ziele, zum anderen hinsichtlich der bei Planung und Durchführung der Angriffe getroffenen Maßnahmen zum Schutz der Zivilbevölkerung.

  • Die Koalitionsmitglieder müssen Gelder zur Verfügung stellen, um zu gewährleisten, dass Opfer und Familienangehörige Entschädigungs- und Wiedergutmachungsleistungen erhalten.

Die Koalition muss genau untersuchen, was in Rakka falsch gelaufen ist. Sie muss aus ihren Fehlern lernen, damit der Zivilbevölkerung bei zukünftigen Militäroperationen nicht noch einmal ein derart enormes Leid zugefügt wird.

Airwars-Direktor Chris Woods

Über die Militäroffensive

Von Juni bis Oktober 2017 flogen die USA, Großbritannien und Frankreich Tausende Luftangriffe auf Rakka, um den IS zurückzudrängen. US-Bodentruppen unterstützten die Luftschläge durch Zehntausende Artillerieangriffe: Laut einem Sprecher des US-Militärs seien während der Offensive 30.000 Artilleriegeschosse abgefeuert worden. Das entspricht einem Artillerieschlag etwa alle sechs Minuten für vier Monate am Stück – das ist mehr als in jedem anderen Konflikt seit dem Vietnamkrieg.

Ungelenkter Artilleriebeschuss kann Ziele nur mit einer Genauigkeit von 100 Metern anvisieren und ist daher immer ungenau. Er stellt bei Einsatz in bewohnten Gebieten eine unverhältnismäßige Gefahr für die Zivilbevölkerung dar.

Zu Beginn der Offensive war der IS in Rakka bereits fast vier Jahre lang an der Macht. Die bewaffnete Gruppe hatte Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen. Diejenigen, die es wagten, sich ihr zu widersetzen, wurden gefoltert oder getötet.

Amnesty International dokumentierte, wie der IS Zivilist*innen als menschliche Schutzschilde missbrauchte, Fluchtwege verminte, Kontrollposten zur Einschränkung der Bewegungsfreiheit einrichtete und diejenigen erschoss, die zu fliehen versuchten.

Einsatz hochmoderner Untersuchungsmethoden

Für diese Untersuchung haben Amnesty International und Airwars zahlreiche Datensätze zusammengefügt und geprüft. Vertreter*innen von Amnesty International haben bereits während der Bombardierung mit ihren Recherchen in der Stadt begonnen: Sie waren vier Mal vor Ort, verbrachten insgesamt circa zwei Monate in Rakka, untersuchten mehr als 200 Einschlagsorte und interviewten über 400 Zeug*innen und Überlebende.

Das Projekt „Strike Trackers von Amnesty International erfasste, wann genau die mehr als 11.000 in Rakka zerstörten Gebäude von Geschossen getroffen wurden. Über 3.000 Digital-Aktivist*innen aus 124 Ländern beteiligten sich an diesem Projekt und analysierten dabei mehr als zwei Millionen Satellitenbilder. Außerdem analysierte das Digital Verification Corps von Amnesty International Video- und Bildmaterial, das während der Kämpfe aufgenommen worden war, und überprüfte es auf seine Authentizität.

Vertreter*innen von Airwars und Amnesty International analysierten in Echtzeit und nach den Kämpfen frei verfügbares Beweismaterial – darunter Tausende Social-Media-Posts. Sie erstellten auf diese Weise eine Datenbank mit den mehr als 1.600 Zivilist*innen, die diesen Berichten zufolge durch die Angriffe der Militärkoalition getötet wurden. Beide Organisationen ermittelten mehr als 1.000 Namen von Todesopfern, von denen Amnesty International bei seiner Arbeit vor Ort 641 verifizieren konnte. Für die restlichen Namen existieren jeweils mehrfach zuverlässige Quellen.

Familien in Sekunden ausgelöscht

Das Militär der USA, Großbritanniens und Frankreichs führten Tausende Luftangriffe in Wohngebieten durch, wodurch es zu zahlreichen zivilen Opfern kam.

Ein besonders tragischer Vorfall ereignete sich am frühen Abend des 25. September 2017, als ein Luftangriff der Militärkoalition ein fünfstöckiges Wohngebäude nahe der Maari-Schule im zentral gelegenen Stadtteil Harat al-Badu komplett zerstörte. Im Keller des Gebäudes waren vier Familien untergebracht. Fast alle Mitglieder dieser Familien – mindestens 32 Zivilist*innen, darunter 20 Kinder – wurden getötet. Eine Woche später kamen weitere 27 Menschen ums Leben, als ein Luftschlag ein nahegelegenes Gebäude zerstörte. Viele von ihnen waren Verwandte der Opfer des Angriffs am 25. September.

Zeit, Verantwortung zu übernehmen

Amnesty International und Airwars haben sowohl die US-geführte Militärkoalition als auch die Regierungen der USA, Großbritanniens und Frankreichs vielfach über die Ergebnisse ihrer Untersuchungen informiert. Darauffolgend hat die Militärkoalition die Verantwortung für den Tod von 159 Zivilist*innen übernommen, was zehn Prozent der ermittelten Gesamtopferzahl entspricht. Die restlichen Opfer wurden aber als „unglaubwürdig“ abgetan.

Bislang hat die Militärkoalition nichts unternommen, um den Berichten über zivile Opfer angemessen nachzugehen oder Augenzeug*innen sowie Überlebende zu interviewen. Sie hat zugegeben, dass sie keine Untersuchungen vor Ort durchführt.