© Women Street Action in Bratislava, Spring 2020, Tibor Woodyman, Alexandra Demetrianova
© Women Street Action in Bratislava, Spring 2020, Tibor Woodyman, Alexandra Demetrianova
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Slowakei: Nebudeme ticho. Wir werden nicht leise sein.

13. September 2020

Das folgende Joint Civil Society Statement - unterzeichnet von 111 Organisationen - wurde am 7. September 2020 an die Nationalratsmitglieder in der Slowakei gesandt. Hintergrund sind die geplanten gesetzlichen Verschärfungen in Bezug auf den Zugang und die Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen, die massive negative Konsequenzen für die Gesundheit sowie die sexuellen und reproduktiven Rechte von Frauen zur Folge hätten.

 

Sehr geehrte Mitglieder des Nationalrates der Slowakischen Republik,


wir schreiben im Namen von 111 Organisationen, um unsere tiefe Besorgnis über die gegenwärtige Bedrohung der reproduktiven Rechte in der Slowakei zum Ausdruck zu bringen.

Gegenwärtig debattiert das Parlament einen Gesetzesentwurf [1], der im Falle seiner Verabschiedung neue Barrieren für den Zugang zu legalen Abtreibungsbehandlungen errichten, der Gesundheit und dem Wohlbefinden der Frauen [2] schaden und ihre Entscheidungsfähigkeit und Privatsphäre untergraben würde. Ärzt*innen würde es dazu zwingen, in Konflikt mit ihren beruflichen Verpflichtungen gegenüber ihren Patient*innen zu handeln. Im Falle ihrer Verabschiedung würde das Gesetz gefährliche abschreckende Auswirkungen auf die Bereitstellung legaler Wege für Schwangerschaftsabbrüche in der Slowakei haben und die schädliche Stigmatisierung von Schwangerschaftsabbrüchen an sich verstärken.

Der Gesetzesentwurf zielt darauf ab, die derzeit vorgeschriebene Wartezeit zu verdoppeln, bevor ein Schwangerschaftsabbruch beantragt werden kann. Verschärft werden sollen auch Kriterien, wann eine medizinische Autorisierung eines Schwangerschaftsabbruch aus gesundheitlichen Gründen genehmigt wird. Frauen sollen bei der Beantragung eines Schwangerschaftsabbruchs verpflichtet werden, konkrete Gründe dafür anzugeben und weitere persönliche Informationen mitzuteilen. Diese Informationen würden dann an das Nationale Gesundheitsinformationszentrum weitergeleitet werden. Der Gesetzesentwurf zielt auch darauf ab, die Informationen, die Mediziner öffentlich über Abtreibungsdienste bereitstellen können, einzuschränken, indem die sogenannte "Werbung" für den Schwangerschaftsabbruch verboten wird. Die verpflichtend anzugebenden Informationen, die Ärzt*innen den betroffenen Frauen mitteilen müssen, sollen eine verstärkt abschreckende Wirkung haben.

Unsere Organisationen sind über diese Vorschläge zutiefst besorgt. Sollten diese angenommen werden, schaden sie der Gesundheit und dem Wohlergehen der Frauen und verstoßen gegen internationale Richtlinien des Gesundheitswesens, gegen bewährte klinische Praktiken und gegen die internationalen Menschenrechtsverpflichtungen der Slowakei.

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat skizziert, dass die Länder sicherstellen sollten, dass die Entscheidungen der Frauen über den Zugang zu legen Abbrüchen respektiert werden und dass die Abbrüche "in einer Weise durchgeführt werden, die die Würde der Frau respektieren, ihr Recht auf Privatsphäre garantieren und ihren Bedürfnissen und Perspektiven Rechnung tragen" [3]. Internationale Menschenrechtsmechanismen haben betont, dass die Staaten die Verfügbarkeit, Zugänglichkeit und Qualität von Abtreibungsdiensten im Einklang mit den WHO-Richtlinien sicherstellen müssen. Sie haben die Staaten, darunter auch die Slowakei, aufgefordert, Hindernisse für einen sicheren und rechtmäßigen Schwangerschaftsabbruch zu beseitigen, darunter obligatorische Wartezeiten, obligatorische Beratung oder Erfordernisse der Genehmigung durch Dritte [4]. Darüber hinaus hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) entschieden, dass "in dem Moment, in dem der Gesetzgeber beschließt, den Schwangerschaftsabbruch zuzulassen, er seinen Rechtsrahmen nicht so strukturieren darf, dass die tatsächlichen Möglichkeiten, ihn zu erlangen, eingeschränkt werden "[5]. Zudem hat der EGMR unterstrichen, dass die europäischen Staaten "die positive Verpflichtung haben, einen Verfahrensrahmen zu schaffen, der es einer schwangeren Frau ermöglicht, ihr Recht auf Zugang zu einem legalen Schwangerschaftsabbruch auszuüben" [6].

 

Verlängerung der verpflichtenden Wartezeit: Die vorgeschlagene Verlängerung der obligatorischen Wartezeit von 48 auf 96 Stunden und der Vorstoß, Schwangerschaftsabbrüche nur aus bestimmten/definierten Gründen durchzuführen, würde den Zugang für Frauen massiv verzögern und damit ihre Gesundheit und ihr Leben gefährden. Die WHO hat darauf hingewiesen, dass "verpflichtende Wartezeiten zu einer Verzögerung der Versorgung führen können. Damit wäre die Möglichkeit für Frauen Zugang zu sicheren, legalen Abtreibungsdiensten zu erhalten, massiv gefährdet“ [7]. Wie die WHO betont hat ist der Schwangerschaftsabbruch zwar ein sehr sicheres medizinisches Verfahren, doch steigt das Komplikationsrisiko (auch wenn die Risiken bei ordnungsgemäßer Durchführung des Abbruchs gering sind) mit der Dauer der Schwangerschaft [8]. Die WHO hat unterstrichen, dass "sobald die Entscheidung [für einen Schwangerschaftsabbruch] von der Frau getroffen wird, sollte der Schwangerschaftsabbruch so schnell wie möglich durchgeführt werden", und zwar ohne Verzögerung [9]. Neben der Gefährdung der Gesundheit und des Wohlbefindens der Frauen führen verpflichtende Wartezeiten häufig auch zu Diskriminierung und sozialen Ungerechtigkeiten. Dabei geht es um erhöhte finanzielle und persönliche Kosten, da mindestens ein zusätzlicher Arztbesuch vor dem Schwangerschaftsabbruch erforderlich wird. Obligatorische Wartezeiten untergraben auch die Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit von Frauen. Die WHO hat klargestellt, dass obligatorische Wartezeiten "Frauen als kompetente Entscheidungsträgerinnen unterminieren" und festgelegt, dass medizinisch unnötige Wartezeiten abgeschafft werden sollten, um "sicherzustellen, dass die Schwangerschaftsabbruchbehandlung in einer Weise erfolgt, die Frauen als Entscheidungsträgerinnen respektiert" [10].

Auferlegen belastender Genehmigungserfordernisse: Die Einführung einer neuen Stufe medizinischer Genehmigungserfordernisse in Situationen, in denen ein Schwangerschaftsabbruch aus gesundheitlichen Gründen notwendig ist, wird den Zugang zu einem rechtmäßigen Schwangerschaftsabbruch verzögern und die Gesundheit der Frauen in Situationen, in denen diese bereits gefährdet ist, weiter aufs Spiel setzen. Das Erfordernis von zwei ärztlichen Bescheinigungen - anstelle der jetzt in solchen Fällen vorgeschriebenen Einzelarztbescheinigung - wird auch die Kosten für den Zugang zur Abtreibungsbehandlung erhöhen, aufwändige Verwaltungsverfahren schaffen und einen abschreckenden Effekt für die Bereitstellung legaler Abtreibungsdienste erzeugen. Die WHO hat festgelegt, dass aufwändige Genehmigungsverfahren, einschliesslich jener Fälle, in denen die Zertifizierung durch mehrere medizinische Fachkräften verlangt wird, für die Betreuung von Schwangerschaftsabbrüchen nicht erforderlich sein sollten. [11]

Beschränkte Bereitstellung von Informationen über den Schwangerschaftsabbruch durch medizinische Anbieter*innen: Der Vorstoß, die sogenannte "Werbung" für den Schwangerschaftsabbruch zu verbieten, würde die Möglichkeiten von Ärzten einschränken, evidenzbasierte Informationen über die Behandlung bei Schwangerschaftsabbrüchen und darüber, wo Frauen Zugang zu rechtmäßigem Schwangerschaftsabbruch haben, zur Verfügung zu stellen. Die Gesetzgebung hätte einen abschreckenden Effekt auf die Bereitstellung solcher Informationen durch medizinische Anbieter*innen, was die Gesundheit und Sicherheit von Frauen gefährden könnte. Internationale Menschenrechtsmechanismen haben unterstrichen, dass gesetzliche Einschränkungen der Verfügbarkeit evidenzbasierter Informationen über sexuelle und reproduktive Gesundheit, einschließlich des sicheren und legalen Schwangerschaftsabbruchs, im Widerspruch zu den Verpflichtungen der Staaten stehen, das Recht der Frauen auf den höchsten erreichbaren Gesundheitsstandard zu respektieren, zu schützen und zu erfüllen. Sie haben deutlich gemacht, dass "diese Beschränkungen den Zugang zu Informationen und Dienstleistungen behindern und Stigmatisierung und Diskriminierung schüren können", und die Staaten aufgefordert, "sicherzustellen, dass genaue, evidenzbasierte Informationen über den Schwangerschaftsabbruch und seine rechtliche Verfügbarkeit öffentlich zugänglich sind" [12]. In ähnlicher Weise hat die WHO betont, wie wichtig es ist, den Zugang zu evidenzbasierten Informationen über Schwangerschaftsabbrüche und die Ansprüche auf eine legale reproduktive Gesundheitsversorgung zu gewährleisten. [13]

Gründe für den Schwangerschaftsabbruch: Von Frauen, die einen Schwangerschaftsabbruch wünschen, zu verlangen, dass sie die Gründe für ihre Entscheidung angeben, was oft eine sehr persönliche und private Angelegenheit ist, könnte Frauen davon abhalten, sich im formellen Gesundheitssystem behandeln zu lassen [14]. Internationale Menschenrechtsmechanismen haben die Slowakei bereits aufgefordert, "die Vertraulichkeit der persönlichen Daten von Frauen und Mädchen, die einen Schwangerschaftsabbruch wünschen, sicherzustellen, unter anderem dadurch, die verpflichtende Meldung der persönlichen Daten dieser Frauen und Mädchen an das Nationale Gesundheitsinformationszentrum abzuschaffen." [15].

Wenn diese Gesetzgebung angenommen wird, steht sie in völligem Widerspruch zu den internationalen Richtlinien des öffentlichen Gesundheitswesens und der klinischen Best Practice. Sie wird die Einhaltung der Verpflichtungen der Slowakei aus internationalen Menschenrechtsverträgen untergraben, ebenso wie die Rechte der Frauen auf Gesundheit, Privatsphäre, Information, Freiheit von unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung, die Grundsätze der Nichtdiskriminierung und die Garantie der Gleichheit in der Wahrnehmung ihrer Rechte. Darüber hinaus verstößt die Annahme dieser Vorstöße gegen das grundlegende völkerrechtliche Prinzip des Rückschrittsverbots. In seiner Überprüfung der Slowakei im Jahr 2019 forderte der UN-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte die Regierung ausdrücklich dazu auf, jeden Rückschritt in Bezug auf die Rechte der Frauen auf sexuelle und reproduktive Gesundheit zu unterlassen [16].

Wir fordern alle Parlamentsmitglieder auf, diesen regressiven und schädlichen Gesetzesvorschlag abzulehnen und von weiteren Versuchen abzusehen, die reproduktiven Rechte der Frauen in der Slowakei einzuschränken.

 

Hochachtungsvoll.

© Monica Costa Riba, Amnesty International
© Monica Costa Riba, Amnesty International

Fußnoten:

[1] Draft Law which Amends and Supplements Act No. 576/2004 Coll. of Laws on Healthcare, Healthcare-related Services, and on Amending and Supplementing Certain Acts As Amended, and which Amends and Supplements Certain Acts (Print no. 154, 19.06.2020), proposed by members of OĽANO - Ordinary People and Independent Personalities.

[2] Obwohl sich Abtreibung hauptsächlich auf die Erfahrungen von cis-gender Frauen bezieht, sind wir uns bewusst, dass Abtreibungsbeschränkungen zutiefst verheerende Auswirkungen auch auf das Leben von trans Männern und nichtbinären Personen haben können, die die Fähigkeit haben, schwanger zu werden, und möglicherweise auch Versorgung betreffend Schwangerschaftsabbrüchen benötigen.

[3] World Health Organization (WHO), SAFE ABORTION:TECHNICAL AND POLICY GUIDANCE FOR HEALTH SYSTEMS (2d ed. 2012), at 64.

[4] See, e.g., Committee on Economic, Social and Cultural Rights (CESCR), General Comment No. 22 on the right to sexual and reproductive health (article 12 of the International Covenant on Economic, Social and Cultural Rights), para. 41, E/C.12/GC/22 (2016); Committee on the Elimination of Discrimination against Women (CEDAW), Concluding Observations: Hungary, para. 31(c), CEDAW/C/HUN/CO/7-8 (2013); Slovakia, para. 31(c), CEDAW/C/SVK/CO/5-6 (2015); Russian Federation, paras. 35(b), 36(a), CEDAW/C/RUS/CO/8 (2015); Macedonia, para. 38(d), CEDAW/C/MKD/CO/6 (2018); Committee on the Rights of the Child, Concluding Observations: Slovakia, para. 41(d), CRC/C/SVK/CO/3-5 (2016); Commissioner for Human Rights of the Council of Europe, Women’s Sexual and Reproductive Health and Rights in Europe (2017), at 11.

[5] Tysiąc v. Poland, No. 5410/03 Eur. Ct. H.R., para. 116 (2007).

[6] R.R. v. Poland, No. 27617/04 Eur. Ct. H.R., para. 200 (2011).

[7] WHO, SAFE ABORTION:TECHNICAL AND POLICY GUIDANCE FOR HEALTH SYSTEMS (2d ed. 2012), at 96.

[8] WHO, SAFE ABORTION:TECHNICAL AND POLICY GUIDANCE FOR HEALTH SYSTEMS (2d ed. 2012), at 21, 32.

[9] WHO, SAFE ABORTION:TECHNICAL AND POLICY GUIDANCE FOR HEALTH SYSTEMS (2d ed. 2012), at 36, 64.

[10] WHO, SAFE ABORTION:TECHNICAL AND POLICY GUIDANCE FOR HEALTH SYSTEMS (2d ed. 2012), at 96-97.

[11] WHO, SAFE ABORTION:TECHNICAL AND POLICY GUIDANCE FOR HEALTH SYSTEMS (2d ed. 2012), at 94-95. See also CESCR, General Comment No. 22, supra note 4, para. 41; CEDAW, General Recommendation No. 24: Article 12 of the Convention (women and health), (20th Sess., 1999), para. 14, HRI/GEN/1/Rev.9 (Vol. II) (2008).

[12] CESCR, General Comment No. 22, supra note 4, para. 41; Special Rapporteur on the Right of Everyone to the Enjoyment of the Highest Attainable Standard of Physical and Mental Health, Interim Report of the Special Rapporteur on the right of everyone to the highest attainable standard of physical and mental health, para. 65(l), A/66/254 (Aug. 3, 2011).

[13] WHO, SAFE ABORTION:TECHNICAL AND POLICY GUIDANCE FOR HEALTH SYSTEMS (2d ed. 2012), at 95.

[14] Zwar sieht der Gesetzesentwurf vor, dass diese Informationen für statistische Zwecke gesammelt werden, doch wäre es immer noch eine Verletzung der Privatsphäre der Frauen von ihnen zu verlangen, dass sie diese Informationen ausfüllen und Gründe für einen Schwangerschaftsabbruch angeben müssen, bevor ein solcher durchgeführt wird.

[15] CEDAW, Concluding Observations: Slovakia, para. 31(f), CEDAW/C/SVK/CO/5-6 (2015). See also CESCR, Concluding Observations: Slovakia, para. 42(d), E/C.12/SVK/CO/3 (2019).

[16] CESCR, Concluding Observations: Slovakia, para. 42(e), E/C.12/SVK/CO/3 (2019).