Sie sind Mädchen, nicht Mütter
5. Dezember 2021In den letzten zehn Jahren haben in Paraguay jeden Tag durchschnittlich zwei Mädchen unter 14 Jahren ein Kind zur Welt gebracht, die meisten von ihnen nach erzwungenen Schwangerschaften als Folge von sexuellem Missbrauch.
Mädchen, die sexuelle Gewalt in Paraguay überlebt haben, stehen vor größten Schwierigkeiten, ihr Leben wieder aufzubauen und Gerechtigkeit zu erlangen. Die Behörden ignorieren ihre Stimmen, zwingen sie, durch Vergewaltigung entstandene Schwangerschaften auszutragen und hören nicht auf Espert*innen zum Thema sexuelle Gewalt, so die Schlussfolgerung von Amnesty International in einem kürzlich veröffentlichten neuen Bericht.
"Paraguay wendet sich durch Taten und Unterlassungen von seinen Mädchen und Teenagern ab, die unvorstellbaren Misshandlungen ausgesetzt sind. Obwohl es auf dem Papier einen gesetzlichen Rahmen gibt, um Überlebende sexueller Gewalt zu unterstützen, sind sie in der Praxis einem chaotischen System ausgeliefert, das ihnen nicht zuhört oder ihr Wohlergehen in den Vordergrund stellt und sich stattdessen darauf konzentriert, Mädchen zu zwingen, Schwangerschaften auszutragen", sagte Erika Guevara-Rosas, Direktorin für Amerika bei Amnesty International.
Der Bericht mit dem Titel Guaraní Mitãkuña ndaha'eiva'erã sy (Sie sind Mädchen, keine Mütter) analysiert das Versagen des in Paraguay existierenden Systems im Umgang mit Fällen von sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche und stützt sich dabei auf die Erfahrungen zahlreicher Fachleute aus den Bereichen Gesundheit, Bildung und Justiz.
Mädchen haben das Recht auf ein Leben frei von Gewalt. Jemanden zu zwingen, eine Schwangerschaft fortzusetzen, insbesondere wenn sie das Ergebnis einer Vergewaltigung ist, ist eine Form der Misshandlung, die als Folter angesehen werden kann.
Erika Guevara-Rosas, Direktorin für Amerika bei Amnesty International
Das Problem ist gewaltig. Allein im Jahr 2019 gingen bei der Staatsanwaltschaft täglich im Durchschnitt 12 Anzeigen wegen sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche ein. Expert*innen schätzen, dass auf zwei Fälle, die ihnen bekannt sind, mindestens 10 weitere kommen können.
Die meisten Fälle finden im familiären Umfeld statt, und in einigen Fällen führt der Missbrauch zu einer Schwangerschaft. In Paraguay werden jeden Tag durchschnittlich zwei Mädchen zwischen 10 und 14 Jahren schwanger. Zwischen 2019 und 2020 haben in Paraguay mindestens 1.000 Mädchen im Alter von 14 Jahren und darunter ein Kind zur Welt gebracht. Darüber hinaus wurden 2019 mehr als 12.000 Mädchen im Teenageralter zwischen 15 und 19 Jahren schwanger. Viele dieser Schwangerschaften können auch das Ergebnis sexueller Gewalt, mangelnder umfassender Sexualerziehung, unzureichender Informationen über die Verhütung früher Schwangerschaften oder eines unzureichenden Zugangs zu Diensten der sexuellen und reproduktiven Gesundheit gewesen sein.
Für Mädchen sind die Möglichkeiten oft sehr begrenzt, trotz der enormen Risiken, die eine frühe Geburt für ihren Körper und ihr Leben mit sich bringen kann - Mädchen unter 15 Jahren haben ein viermal höheres Risiko, an schwangerschaftsbedingten Komplikationen zu sterben, und ein höheres Risiko einer Frühgeburt.
Paraguay verfügt nach wie vor über einige der restriktivsten Gesetze in Nord- und Südamerika, was den Zugang zu einem sicheren und legalen Schwangerschaftsabbruch betrifft. Ein Schwangerschaftsabbruch ist ein Verbrechen, das mit Gefängnis bestraft wird, außer in Fällen, in denen das Leben der Schwangeren in Gefahr ist.
In Ermangelung von Alternativen enden viele Mädchen bei ihren Peinigern oder in Kinderheimen, wo sie oft unter Druck gesetzt werden, Mütter zu werden und sind weiteren Misshandlungen ausgesetzt, die sie jeder Möglichkeit einer guten Ausbildung und eines würdigen Lebensplans berauben.
Da die paraguayischen Behörden nicht auf die Meinung der Fachleute zu sexueller Gewalt an Mädchen und Jugendlichen hören, fördern sie keine Früherkennung, bieten keine umfassende Sexualerziehung mit geschlechtsspezifischem Schwerpunkt an und koordinieren und handeln nicht adäquat. Damit werden die Betroffenen abermals zu Opfern.
"Mädchen haben das Recht auf ein Leben frei von Gewalt. Jemanden zu zwingen, eine Schwangerschaft fortzusetzen, insbesondere wenn sie das Ergebnis einer Vergewaltigung ist, ist eine Form der Misshandlung, die als Folter angesehen werden kann", sagte Erika Guevara-Rosas. "Trotz einiger gesetzlicher Fortschritte in den letzten Jahren hat es Paraguay versäumt, ausreichende Maßnahmen zum Schutz der verletzlichsten Menschen in der Gesellschaft zu ergreifen."
2018 verabschiedete Paraguay das Gesetz 6202, um sexuellem Missbrauch vorzubeugen und eine umfassende Betreuung von Überlebenden im Kindes- und Jugendalter zu gewährleisten. Doch fast drei Jahre später ist der Fahrplan für seine Umsetzung noch nicht fertiggestellt.
Was geschehen muss
Die Behörden fördern keine umfassende Sexualerziehung, ein Schlüsselelement für die Verhütung von frühen Schwangerschaften. Obwohl das Kinder- und Jugendgesetzbuch ihre Bedeutung anerkennt, haben die Behörden 2011 ihre Umsetzung gestoppt. Im Jahr 2017 verbot das Ministerium für Bildung und Wissenschaft "die Verbreitung und Verwendung von Materialien ..., die sich auf die Gendertheorie und/oder -ideologie beziehen, in Bildungseinrichtungen".
"Die paraguayischen Behörden müssen unverzüglich eine umfassende Sexualerziehung einführen, um sicherzustellen, dass Mädchen, Knaben und Jugendliche stärkt sich zu äußern, wenn sie von sexueller Gewalt bedroht sind", sagte Erika Guevara-Rosas.
"Sie müssen auch den seit langem erwarteten einheitlichen Weg zur umfassenden Betreuung von Überlebenden sexuellen Missbrauchs und zur Verhinderung chronischer abermaliger Viktimisierung abschließen und ein nationales Programm zur Unterstützung von Schwangeren einrichten, die gezwungen sind, die Schwangerschaft auszutragen, um ihnen zu helfen, ihr Leben wieder aufzubauen und die schweren Langzeitschäden zu überwinden, die sexuelle Gewalt anrichten kann."