Sexuelle Gewalt in der Schweiz
21. Mai 2019Jede 5. Frau betroffen
Sexuelle Gewalt ist in der Schweiz viel verbreiteter als gedacht: Mindestens jede fünfte Frau ab 16 Jahren hat einen sexuellen Übergriff erlebt, mehr als jede zehnte Frau erlitt Geschlechtsverkehr gegen ihren Willen. Dies geht aus einer repräsentativen Umfrage unter rund 4500 Frauen hervor, die das Forschungsinstitut gfs.bern im Auftrag von Amnesty International durchgeführt hat.
Die Erhebung von gfs.bern liefert zum ersten Mal genauere Zahlen zur Verbreitung sexueller Belästigung und sexueller Gewalt in der Schweiz. Befragt wurden zwischen 16. März und 15. April 2019 4495 in der Schweiz wohnhafte Frauen und Mädchen im Alter ab 16 Jahren. Drei Erhebungsmethoden (Telefonbefragung, Online-Panel und Online-Mitmachbefragung) wurden kombiniert und danach repräsentativ für alle Frauen in der Schweiz gewichtet.
22 Prozent der Befragten haben während ihres Lebens ungewollte sexuelle Handlungen erlebt, 12 Prozent erlitten Geschlechtsverkehr gegen den eigenen Willen. «Es ist erschreckend, wie wenig Frauen nach einem sexuellen Übergriff selbst in ihrem nahen Umfeld darüber sprechen. Fast die Hälfte der Frauen (49 Prozent) gibt an, den Vorfall sexueller Gewalt für sich behalten zu haben. Nur 8 Prozent erstatteten nach dem Übergriff Anzeige bei der Polizei», sagte Cloé Jans von gfs.bern bei der Präsentation der Resultate an einer Medienkonferenz in Bern.
Auch viele Formen der sexuellen Belästigung sind weit verbreitet. 40 Prozent der befragten Frauen machen sich in ihrem Alltag Sorgen sexuell belästigt zu werden. Mehr als die Hälfte (59 Prozent) hat eine Belästigung in Form von unerwünschten Berührungen, Umarmungen oder Küssen erlebt.
Schockierende Dunkelziffer
«Die Ergebnisse der Umfrage sind erschütternd. Sie decken auf, dass die in der Kriminalstatistik erfassten Fälle nur die Spitze des Eisbergs sind. Sexuelle Übergriffe bleiben in der Schweiz in den allermeisten Fällen unbestraft. Viele Vergewaltigungsopfer werden von Behörden und Justiz im Stich gelassen, während Täter ohne Strafe davonkommen», sagte Manon Schick, Geschäftsleiterin von Amnesty Schweiz.
Gründe für die hohe Straflosigkeit der Täter sehen Rechtsexpert*innen und Opferberatungsstellen vor allem im veralteten Schweizer Sexualstrafrecht und in Vergewaltigungsmythen, die in der Gesellschaft und im Justizsystem verbreitet sind.
«Sexuelle Gewalt hat gravierende Folgen für das Leben der Opfer. Doch der Schaden für die Betroffenen wird oft verharmlost. Opferfeindliche und den Täter entlastende Vergewaltigungsmythen stellen die Glaubwürdigkeit der Frauen in Frage und schreiben ihnen eine Mitschuld zu. Diese Mythen führen zu einer Abwertung der Opfer und hindern sie daran, Hilfe in Anspruch zu nehmen und Anzeige zu erstatten», sagte Agota Lavoyer von der Opferberatungsstelle LANTANA.
Nicht vereinbar mit Istanbul-Konvention
Die Istanbul-Konvention, ein Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung sexueller Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt, ist im April 2018 für die Schweiz in Kraft getreten. Laut der Konvention hat eine Vergewaltigung und jede sexuelle Handlung mit einer anderen Person ohne gegenseitiges Einverständnis (Consent) als Straftat zu gelten (Art. 36). Im aktuellen Schweizer Strafgesetz gilt Sex ohne Einverständnis jedoch weiterhin nicht in jedem Fall als Vergewaltigung (Art. 190 StGB). Für eine sexuelle Nötigung oder eine Vergewaltigung muss immer ein Nötigungsmittel vorliegen, das heisst, der Täter muss das Opfer «bedrohen», «Gewalt anwenden», «es unter psychischen Druck setzen» oder «zum Widerstand unfähig machen». Liegt kein Nötigungsmittel vor, gilt die Tat in der Schweiz nicht als schweres Unrecht – selbst wenn ein Opfer klar Nein gesagt hat.
In einer juristischen Analyse kommt Amnesty International zum Schluss, dass das Schweizer Strafrecht bei Delikten gegen die sexuelle Integrität nicht konform ist mit internationalen Menschenrechtsnormen wie der Istanbul-Konvention und angepasst werden muss. Diese Forderung deckt sich mit den Aussagen der Befragten in der Umfrage: Aus Sicht einer klaren Mehrheit aller Frauen sollte Geschlechtsverkehr ohne Einverständnis als Vergewaltigung eingeordnet werden. Mit dieser Forderung sind 84 Prozent der Befragten voll oder eher einverstanden.
Reform des Sexualstrafrechts
Nora Scheidegger, Juristin und Expertin für das Schweizer Sexualstrafrecht, sprach sich für die Einführung eines neuen Grundtatbestandes aus, der sexuelle Handlungen ohne gegenseitiges Einverständnis prinzipiell unter Strafe stellt und so das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung besser schützt. «Die Schweiz hat ein veraltetes Sexualstrafrecht, das grundlegend reformiert werden sollte», sagte Nora Scheidegger.
«Viele Opfer stehen heute vor Gericht schlecht da und kommen nicht zu ihrem Recht. Weil die Vergewaltigungsnorm eine Nötigung voraussetzt, verlangt man vom Opfer indirekt, dass es sich zur Wehr setzt». Dies sei zutiefst problematisch, da «Lähmungen» oder «Schockzustände» eine sehr häufige physiologische und psychologische Reaktion auf sexuelle Gewalt sind.
«Die einseitige Konzentration in der Rechtspraxis auf Widerstand und Gewalt statt auf fehlende Einwilligung verkennt, worum es eigentlich geht: Das zentrale Unrecht ist nicht Zwang oder Gewalt, sondern die Missachtung der sexuellen Selbstbestimmung», sagte Strafrechtsprofessor Martino Mona. «Es braucht ein Zeichen an die Betroffenen, dass das Sexualstrafrecht das Fehlen der Einwilligung als schweres Unrecht anerkennt».
Petition an Bundesrätin Keller-Sutter
Amnesty International ruft in einer Petition Justizministerin Karin Keller-Sutter und das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement dazu auf, Vorschläge für eine Reform des Sexualstrafrechts vorzulegen, damit alle sexuellen Handlungen ohne Einverständnis strafbar sind. Weiter verlangt die Petition die obligatorische Ausbildung und kontinuierliche Schulung bei Justiz, Polizei sowie für Anwältinnen und Anwälte im Umgang mit Betroffenen von sexueller Gewalt sowie systematische Datenerhebungen und Forschung zur strafrechtlichen Verfolgung von Delikten gegen die sexuelle Integrität in der Schweiz.