Am 15. November sagte die Generalstaatsanwaltschaft des Bundesstaates México ohne Erklärung und mit nur wenigen Stunden Vorlauf eine geplante öffentliche Entschuldigung ab, die an die Angehörigen von Frauen gerichtet hätte sein sollen, die in dem Bundesstaat Opfer von Verschwindenlassen und Feminizid geworden waren. (Der in Mexiko verwendete Begriff "Feminizid" statt "Femizid" verdeutlicht die politische Dimension von Morden an Frauen bei weitgehender Straflosigkeit.) Dies ist bereits das dritte Mal, dass diese Veranstaltung abgesagt wurde. Eine öffentliche Entschuldigung in dieser Angelegenheit hat für die Angehörigen große symbolische Bedeutung und trägt im Sinne der Genugtuung zu der zu leistenden Wiedergutmachung bei.
Von den insgesamt 32 Bundesstaaten Mexikos verzeichnet México eine besonders hohe Quote geschlechtsspezifischer Gewalt. Laut Angaben des Sekretariats für Öffentliche Sicherheit (Secretariado Ejecutivo del Sistema Nacional de Seguridad Pública) wurden in México zwischen dem 1. Januar und 31. Oktober 2022 mindestens 120 Feminizide begangen – mehr als in jedem anderen mexikanischen Bundesstaat. Ebenfalls besorgniserregend sind die zahlreichen Fälle des Verschwindenlassens von Frauen und Mädchen im Bundesstaat México. Daten der Nationalen Suchkommission (Comisión Nacional de Búsqueda) zeigen auf, dass der Verbleib von 353 Frauen und Mädchen, die zwischen dem 1. Januar und 31. Oktober 2022 in dem Bundesstaat als vermisst gemeldet wurden, nach wie vor ungeklärt ist.
Vor diesem Hintergrund hatte der Generalstaatsanwalt von México zu vier Fällen von Verschwindenlassen und Feminizid eine öffentliche Entschuldigung versprochen. Hierbei handelt es sich um die Fälle von: Nadia Muciño Márquez, die 2004 verschwand und getötet wurde; Daniela Sánchez Curiel, die 2015 verschwand und deren Verbleib unbekannt ist – ihre Familie geht davon aus, dass sie Opfer eines Feminizids wurde; Diana Velázquez Florencio, die 2017 verschwand und getötet wurde; und Julia Sosa Conde, die 2018 verschwand und getötet wurde.
Ein öffentliche Entschuldigung würde folgende Faktoren anerkennen: 1.) die Defizite bei der Untersuchung dieser Fälle; 2.) der Mangel an wirksamen Maßnahmen, um geschlechtsspezifische Gewalt im Bundesstaat México zu verhindern, untersuchen, verfolgen und bestrafen; und 3.) das schiere Ausmaß der geschlechtsspezifischen Gewalt im Bundesstaat México.
Entsprechend Paragraf 4, Abschnitt XVI des mexikanischen Gesetzes zum Verschwindenlassen (Ley General en Materia de Desaparición Forzada de Personas, Desaparición Cometida por Particulares y del Sistema Nacional de Búsqueda de Personas) fordert Amnesty International das Büro des Generalstaatsanwalts des Bundesstaates México auf, die öffentliche Entschuldigung abzugeben und die Rechte der Opfer und ihrer Familien auf Gerechtigkeit und umfassende Entschädigung zu gewährleisten.