Iran: Gefangene in Foltergefahr
30. April 2020Update Juli 2020:
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Im Sheiban-Gefängnis in der iranischen Provinz Chuzestan wurden am 31. März zahlreiche Angehörige der arabischen Minderheit der Ahwazis schwer verletzt, als Sicherheitskräfte mit Schlägen und Metallgeschossen gegen Inhaftierte vorgingen, die gegen unzureichende Maßnahmen angesichts von COVID-19 protestierten. Sie benötigen dringend medizinische Versorgung. Der Aufenthaltsort von Hossein Silawi, Ali Khasraji und Naser Khafaji, die am 31. März Opfer des Verschwindenlassens wurden, ist nach wie vor unbekannt. Mindestens sieben weitere Männer wurden zusammen in einer Einzelzelle eingesperrt und sind in den Hungerstreik getreten.
Amnesty forderte:
- Lassen Sie bitte alle gewaltlosen politischen Gefangenen frei, einschließlich Mohammad Ali Amouri, Jaber Alboshokeh und Mokhtar Alboshokeh.
- Bitte sorgen Sie dafür, dass die drei Männer und andere im Sheiban-Gefängnis Inhaftierte wie Abdolreza Obeidawi, Abdolrazagh Obeidawi, Abdulemam Zayeri, Ali Ka’ab Umair, Ali Khasraji, Ali Mojadam, Hossein Silawi, Jamil Heidary, Jasem Heidary, Moieen Khanafereh, Naser Khafaji, Sajad Deilami und Abdolzahra (Zuhair) Heleichi medizinisch versorgt werden und regelmäßigen Kontakt mit ihren Familien und Rechtsbeiständen aufnehmen dürfen.
- Leiten Sie umgehend eine unabhängige Untersuchung der Vorwürfe des Verschwindenlassens und der Folter während und nach den Protesten vom 31. März ein und stellen Sie sicher, dass Gefangene vor Folter und anderer Misshandlung geschützt sind.
Sachlage
In Trakt 5 des Sheiban-Gefängnisses von Ahvaz in der Provinz Chuzestan wurden am 31. März zahlreiche Ahwazis schwer verletzt, als Sicherheitskräfte mit Schlägen und Metallgeschossen gegen Inhaftierte vorgingen, die gegen unzureichende Maßnahmen angesichts der Ausbreitung von COVID-19 protestierten. Sie benötigen dringend medizinische Versorgung. Zu ihnen zählen der Menschenrechtler Mohammad Ali Amouri, der Berichten zufolge Verletzungen am Brustkorb und am Kopf davontrug; Abdolreza Obeidawi, der wegen körperlicher Misshandlung an Magen-Darm-Beschwerden leidet und aufgrund von Schussverletzungen auf einem Auge erblindet ist; sowie Abdolzahra (Zuhair) Heleichi, Abdulemam Zayeri, Sajad Deilami, Ali Ka’ab Umair, Jaber Alboshokeh und sein Bruder Mokhtar Alboshokeh, die Wunden davongetragen haben, die sich nun entzündet haben sollen.
Seit dem 31. März dürfen Gefangene im Sheiban-Gefängnis keinen Besuch von ihren Familien mehr erhalten. Stattdessen werden ihnen täglich einminütige Anrufe gestattet. Laut Angaben verschiedener Familienangehöriger wurden zahlreiche Inhaftierte für einige Zeit Opfer des Verschwindenlassens und in diesem Zeitraum gefoltert oder anderweitig misshandelt. Die Behörden brachten Hossein Silawi, Ali Khasraji und Naser Khafaji am 31. März an einen unbekannten Ort und haben deren Familien bis heute nicht über das Schicksal und den Verbleib ihrer Angehörigen informiert. Auch Jaber Alboshokeh, Mokhtar Alboshokeh, Ali Mojadam, Moieen Khanafereh, Jamil Heidary, Jasem Heidary und Abdolrazagh Obeidawi fielen an diesem Tag dem Verschwindenlassen zum Opfer. Sie wurden am 13. April wieder in das Sheiban-Gefängnis zurückgebracht, müssen sich aber seither eine Einzelzelle teilen und dürfen keine regelmäßigen Telefonanrufe tätigen. Ihre Familienangehörigen erfuhren schließlich, dass die sieben Männer am 23. April in den Hungerstreik getreten sind. Zahlreiche Gefangene aus Trakt 5 haben ihren Verwandten mitgeteilt, dass die meisten in diesem Trakt Inhaftierten bei den Protesten verletzt wurden und sich nun wegen neuer Anklagen verantworten müssen.
Hintergrundinfo
Amnesty International geht davon aus, dass in Trakt 5 des Sheiban-Gefängnisses mehr als 150 Personen aus politischen Motiven festgehalten werden. Unter ihnen befinden sich auch gewaltlose politische Gefangene. Am 31. März organisierten diese Gefangenen gemeinsam mit Insassen anderer Trakte Proteste gegen die Gefahren einer Ausbreitung des Coronavirus in dem Gefängnis. Sie forderten Maßnahmen zum Schutz gegen das Virus, wie Freilassungen, Corona-Tests, Behandlungsmöglichkeiten und Hygieneprodukte. Amnesty International vorliegenden Informationen zufolge wandten die Sicherheitskräfte von Anfang an unnötige bzw. unverhältnismäßige Gewalt an, um die Proteste niederzuschlagen. Als die Proteste in einigen Trakten in Aufstände umschlugen und Häftlinge Dinge in Brand steckten, schossen Gefängniswärter in Kampfausrüstung unterschiedslos mit scharfer Munition, Tränengas und Metallgeschossen auf die Insassen. Dies berichteten kürzlich entlassene Häftlinge sowie Verwandte von Inhaftierten und Menschenrechtler*innen, die mit Personen innerhalb des Gefängnisses in Verbindung stehen. Diesen Berichten zufolge sind womöglich bis zu 20 Häftlinge an Erstickung, Verbrennungen oder Schussverletzungen gestorben, und Hunderte weitere wurden verletzt.
Gefangene aus Trakt 5 haben zudem angegeben, später am selben Tag von Gefängniswärtern gezwungen worden zu sein, durch einen sogenannten „Foltertunnel“ zu gehen. Hierbei wurden die Häftlinge auf dem Weg von ihren Zellen in den Hof von Gefängniswärtern, die sich auf beiden Seiten positionierten, mit Schlagstöcken und Kabeln auf den Rücken und den Kopf geschlagen. Ein kürzlich entlassener Gefangener berichtete, dass die Insassen gezwungen wurden, barfuß über einen mit Scherben übersäten Pfad zu laufen. Im Gefängnishof wurden die Häftlinge dann einzeln zu ihrer Rolle bei den Protesten befragt. Dutzende von ihnen wurden daraufhin mit verbundenen Augen an einen unbekannten Ort gebracht. In den darauffolgenden zwei Wochen verweigerten die Behörden jede Auskunft über das Schicksal und den Verbleib dieser Gefangenen. Die meisten von ihnen wurden am 13. April wieder in Trakt 5 des Sheiban-Gefängnisses zurückgebracht. Offenbar waren sie in der Zwischenzeit in einer Hafteinrichtung des Geheimdienstministeriums in Ahvaz festgehalten und dort verhört und gefoltert worden.
Amnesty International vorliegenden Informationen zufolge laufen die meisten der Personen, die aktuell aus politischen Motiven in Trakt 5 des Sheiban-Gefängnisses inhaftiert sind, Gefahr, sich in Verbindung mit den Protesten wegen neuer Anklagen verantworten zu müssen. Manche von ihnen sind bereits seit 10-20 Jahren im Gefängnis und hätten bei einer erneuten Verurteilung nur geringe Aussichten auf Hafturlaub oder Begnadigung. Zu ihnen zählen Mohammad Ali Amouri (zwölf Jahre in Haft), Abdulemam Zayeri (15 Jahre in Haft), Ali Manbouhi (20 Jahre in Haft), Nazem Berihi (18 Jahre in Haft), Rahim Afravi (20 Jahre in Haft), Abdolzahra (Zuhair) Heleichi (15 Jahre in Haft) und Yahya Naseri (15 Jahre in Haft). Die Menschenrechtler Mohammad Ali Amouri, Jaber Alboshokeh und Mokhtar Alboshokeh sind zu lebenslanger Haft verurteilt worden, weil sie sich friedlich in der mittlerweile aufgelösten Gruppe Al-Hiwar (arabisch für „Dialog“), die sich für kulturelle Rechte einsetzte, engagiert hatten.
Nachdem aus einigen Gefängnissen über COVID-19-Fälle berichtet wurde, organisierten Ende März Tausende Häftlinge in mindestens acht iranischen Gefängnissen Proteste gegen die unzureichenden Schutzmaßnahmen der Behörden. Diese Proteste wurden von den Sicherheitskräften in mehreren Gefängnissen mit tödlicher Gewalt niedergeschlagen. Glaubwürdigen Quellen zufolge wurden etwa 36 Personen getötet und Hunderte weitere verletzt.
Artikel 7 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte, dessen Vertragsstaat der Iran ist, verbietet Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe. Gemäß dem Völkerrecht müssen Staaten jegliche Folter- und Misshandlungsvorwürfe umgehend unabhängig und gründlich untersuchen, die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen und dafür sorgen, dass die Betroffenen Zugang zu einem wirksamen Rechtsbehelf und einer Entschädigung haben; hierzu zählt auch Rehabilitation. Nach dem Völkerrecht müssen die Behörden allen Inhaftierten ohne Verzögerung Zugang zu medizinischer Versorgung gewähren. Die Behörden sind zudem verpflichtet, Häftlinge angemessen in die Lage zu versetzen, mit ihren Familien und Freund*innen zu kommunizieren und Besuch von diesen zu erhalten. Solche Besuche sind wichtige Schutzmechanismen gegen Folter und andere Misshandlungen. Die Verschleierung des Schicksals bzw. Verbleibs von Inhaftierten kommt dem Verschwindenlassen gleich und stellt ein Verbrechen nach dem Völkerrecht dar.
Die Provinz Chuzestan im Südwesten des Iran hat eine große arabische Bevölkerung, deren Angehörige sich im Allgemeinen als „Ahwazi-Araber*innen“ begreifen. Trotz eines hohen Aufkommens an natürlichen Ressourcen leidet die Provinz unter schwachen sozioökonomischen Verhältnissen und starker Luft- und Wasserverschmutzung. Die Ahwazis leben oft in ärmlichen Verhältnissen am Stadtrand und leiden unter Diskriminierung hinsichtlich Zugang zu Beschäftigung, Wohnraum, politischer Teilhabe und kulturellen, bürgerlichen und politischen Rechten. Zudem sind sie in der Verwendung ihrer eigenen Sprache eingeschränkt und dürfen sie in der Grundschulbildung nicht verwenden. Dies hat zu tiefen Ressentiments geführt.