Drei Jahrzehnte lang organisierte die Hong Kong Alliance die weltweit größte Veranstaltung zum Gedenken an die Niederschlagung der Proteste auf dem Tiananmen-Platz in Peking. Am 3. und 4. Juni 1989 waren dort Hunderte – möglicherweise Tausende – Menschen getötet worden, als das chinesische Militär das Feuer auf Studierende und Arbeiter_innen eröffnete. Diese hatten monatelang friedlich für politische und wirtschaftliche Reformen sowie ein Ende der Korruption demonstriert. In ganz China waren Tausende wegen ihrer Teilnahme an den Demonstrationen festgenommen und inhaftiert worden. Seit 1990 kamen jedes Jahr am 4. Juni Zehn- und manchmal Hunderttausende Menschen mit Kerzen zu einer Mahnwache in den Hongkonger Victoria Park, um der Toten zu gedenken. Sie forderten die chinesischen Behörden auf, die Wahrheit über die damaligen Geschehnisse zu veröffentlichen und die Verantwortung für die Toten zu übernehmen. In den letzten beiden Jahren war die Gedenkveranstaltung wegen der Corona-Pandemie verboten worden. Zuvor war sie die einzige große Gedenkveranstaltung zur Niederschlagung der Tiananmen-Proteste im Land.
Am 8. September 2021 wurden Chow Hang-tung und drei weitere ehemalige Sprecher_innen der Hong Kong Alliance, Simon Leung Kam-wai, Tang Ngok-kwan und Chan Dor-wai, festgenommen. Zuvor hatten sie sich geweigert, den Behörden Informationen über die Mitglieder, Mitarbeiter*innen und Partnerorganisationen der Allianz vorzulegen. Ein weiterer ehemaliger Sprecher, Tsui Hon-kwong, wurde zwei Tage später festgenommen. Am 9. September 2021 wurde der Hong Kong Alliance "Anstiftung zum Umsturz" vorgeworfen, Chow Hang-tung wurde gemeinsam mit den prominenten Politikern Albert Ho und Lee Cheuk-yan angeklagt. Zum Zeitpunkt der Anklageerhebung war Chow Hang-tung die stellvertretende Vorsitzende der Allianz. Nachdem gegen die Kernmitglieder Strafverfolgungsmaßnahmen eingeleitet worden waren und der Druck seitens der Regierung immer weiter zunahm, löste sich die Hong Kong Alliance am 25. September 2021 auf.
Am 29. September 2021 teilte das Hongkonger Ministerium für Nationale Sicherheit der Allianz mit, dass ihre Vermögenswerte – darunter Bankkonten und eine Immobilie – gemäß den Durchführungsbestimmungen nach Paragraf 43 des Nationalen Sicherheitsgesetzes eingefroren worden seien. Am 26. Oktober 2021 ordnete die Hongkonger Regierungschefin die Streichung der Hong Kong Alliance aus dem Handelsregister an. Die Arbeit der Allianz, einschließlich der Organisation friedlicher Versammlungen, untergrabe die "Fähigkeit der Zentralregierung, die nationale Sicherheit zu gewährleisten und die öffentliche Sicherheit und Ordnung aufrechtzuerhalten".
Chow Hang-tung ist schon lange als Menschenrechtsverteidigerin aktiv. Bevor sie Menschenrechtsanwältin wurde, setzte sie sich für Arbeitsrechte in China ein und unterstützte dort Menschenrechtsverteidiger_innen. Als Rechtsanwältin in Hongkong verteidigte sie politische Aktivist_innen, die unter dem Nationalen Sicherheitsgesetz ins Visier genommen wurden. Sie war stellvertretende Vorsitzende der Hong Kong Alliance in Support of Patriotic Democratic Movements of China (Hongkong-Allianz), die das weltweit größte jährliche Gedenken an die Niederschlagung der Proteste auf dem Pekinger Tiananmen-Platz 1989 organisiert.
Die Regierung von Hongkong hat wiederholt betont, dass sie rechtlich garantierte Freiheiten – einschließlich der Versammlungs- und Meinungsfreiheit – zum Schutz der "nationalen Sicherheit" einschränken könne. Diese Antwort erhielten auch die Vereinten Nationen anlässlich ihrer regelmäßigen Überprüfung der Umsetzung des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte in Hongkong. Die strafrechtliche Verfolgung von Chow Hang-tung und anderen Aktivist*innen, die ihre Rechte friedlich wahrgenommen haben, verstößt jedoch gegen internationale Menschenrechtsnormen und -standards. Diese besagen ausdrücklich, dass Regierungen die entsprechenden Freiheiten nicht einfach "aus Gründen der nationalen Sicherheit" einschränken dürfen – es sei denn, ihre Ausübung umfasst die Anwendung oder glaubhafte Androhung von Gewalt, die die Existenz oder territoriale Integrität eines Staates bedrohen würde.
Das Gesetz der Volksrepublik China zur Wahrung der nationalen Sicherheit in der Sonderverwaltungszone Hongkong (NSL) wurde vom Ständigen Ausschuss des Nationalen Volkskongresses Chinas (NPCSC) einstimmig verabschiedet und am 30. Juni 2020 in Hongkong in Kraft gesetzt, ohne dass eine formale, aussagekräftige öffentliche oder sonstige Konsultation vor Ort stattgefunden hätte. Das NSL hat sich unmittelbar und weitreichend auf die Hongkonger Gesellschaft ausgewirkt. Die weitreichende Definition von "nationaler Sicherheit" im Gesetz, die der der chinesischen Zentralbehörden folgt, lässt Klarheit und rechtliche Vorhersehbarkeit vermissen und wurde willkürlich als Vorwand genutzt, um unter anderem die Menschenrechte auf freie Meinungsäußerung, friedliche Versammlung und Vereinigungsfreiheit einzuschränken und Andersdenkende und die politische Opposition zu unterdrücken. Indem sie politische Parteien, Wissenschaftler_innen und andere Organisationen und Einzelpersonen, die tatsächlich oder vermeintlich der gegenwärtigen Regierung und dem politischen System in Hongkong kritisch gegenüberstehen, beschuldigen, die nationale Sicherheit zu bedrohen, versuchen die Behörden, Zensur, Schikanen, Festnahmen und strafrechtliche Verfolgung, die gegen die Menschenrechte verstoßen, zu rechtfertigen.
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