Libanon: Massenabschiebungen nach Syrien stoppen
19. Mai 2023Die libanesischen Streitkräfte haben kürzlich hunderte Syrer*innen kurzerhand nach Syrien zurückgeschoben, wo ihnen Verfolgung oder Folter droht. Die Abschiebungen erfolgen inmitten einer alarmierenden Zunahme flüchtlingsfeindlicher Rhetorik im Libanon und anderer Zwangsmaßnahmen, die darauf abzielen, Geflüchtete zur Rückkehr in ihre Heimat zu drängen, erklärte am 11. Mai eine Gruppe von 20 nationalen und internationalen Organisationen, unter ihnen Amnesty International.
Seit Anfang April führen die libanesischen Streitkräfte in Distrikten im gesamten Libanon, darunter Mount Lebanon, Jounieh, Qob Elias und Bourj Hammoud, Razzien in Häusern syrischer Geflüchteter durch und deportieren die meisten von ihnen anschließend sofort. Viele gewaltsam ausgewiesene Menschen sind beim Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen - UNHCR registriert oder bekannt. Abgeschobene Personen teilten Amnesty International mit, dass ihnen keine Gelegenheit gegeben wurde, mit einem Anwalt oder dem UNHCR zu sprechen, und dass ihnen nicht das Recht eingeräumt wurde, gegen ihre Abschiebung Einspruch einzulegen und ihren Fall vorzutragen, um Schutz zu beantragen.
Die libanesischen Behörden haben die Wirtschaftskrise des Landes bewusst schlecht gemanagt, Millionen Menschen verarmen lassen und ihnen ihre Grundrechte entzogen. „Doch anstatt die notwendigen Reformen umzusetzen, greifen sie stattdessen darauf zurück, Geflüchtete als Sündenböcke für ihr eigenes Versagen verantwortlich zu machen. „Nichts rechtfertigt es, hunderte syrische Männer, Frauen und Kinder in den frühen Morgenstunden gewaltsam aus ihren Betten zu holen und sie der Regierung zu übergeben, vor der sie geflohen sind“, sagten die Organisationen.
Die befragten Personen, darunter seit 2012 beim UN-Hochkommissariat registrierte Geflüchtete, berichteten den Organisationen, dass die libanesische Armee die Abgeschobenen an die Grenze gefahren und direkt den syrischen Behörden übergeben habe. Einige von ihnen wurden bei ihrer Rückkehr nach Syrien verhaftet oder verschwanden.
Lokale und internationale Organisationen dokumentieren weiterhin schreckliche Verstöße des syrischen Militärs und der Sicherheitskräfte gegen syrische Rückkehrer*innen, darunter auch Kinder, wie illegale oder willkürliche Inhaftierungen und Folter oder andere Misshandlungen, Vergewaltigungen und sexuelle Gewalt sowie gewaltsames „Verschwindenlassen“.
Feindseliges Umfeld
Mit den Abschiebungen gehen weitere Maßnahmen einher, die darauf abzielen, Syrier*innen zur Rückkehr zu zwingen. Mehrere Gemeinden im ganzen Libanon haben diskriminierende Maßnahmen gegen Syrer*innen verhängt, darunter Ausgangssperren und Einschränkungen ihrer Bewegungsfreiheit sowie Einschränkungen bei der Möglichkeit, Wohnungen zu mieten. Darüber hinaus haben einige lokale Behörden verlangt, dass syrische Frauen ihre persönlichen Daten, einschließlich Ausweispapieren, Aufenthaltskarten und Wohnsitznachweisen, preisgeben, und ihnen mit der Abschiebung gedroht, wenn sie dies nicht tun.
Das feindselige Umfeld für Flüchtlingsfrauen und andere Geflüchtete wurde durch eine alarmierende Zunahme der flüchtlingsfeindlichen Rhetorik verschärft, die in einigen Fällen von lokalen Behörden und Politikern angeheizt wurde.
Die libanesischen Medien stehen wegen ihrer Äußerungen über Syrer*innen in der Kritik, was zu wachsenden Spannungen zwischen den Aufnahmegemeinschaften und den Flüchtlingen führt.
Diese jüngsten Entwicklungen haben zu einer Atmosphäre der Feindseligkeit geführt und in der syrischen Gemeinschaft des Libanon Angst und Panik ausgelöst. Flüchtlingsfrauen im Libanon berichteten, dass sie Angst davor hatten, abgeschoben oder angegriffen zu werden, und viele sagten, sie hätten ihre Häuser seit Wochen nicht verlassen.
„Die zunehmende flüchtlingsfeindliche Rhetorik, die größtenteils auf Fehlinformationen basiert, trägt zu Gewalt und Diskriminierung gegen sie bei.“ Die Medien und politischen Persönlichkeiten sollten die Rechte aller Menschen im Libanon, einschließlich Flüchtlingen und Asylbewerber*innen, schützen und nicht zu Gewalt gegen sie aufstacheln“, sagten die Organisationen.
Keine Abschiebung, wenn Folter droht
Als Vertragspartei des Übereinkommens gegen Folter ist der Libanon dazu verpflichtet, Personen, denen Folter droht, nicht zurückzuschicken oder auszuliefern. Der Libanon ist außerdem an den völkerrechtlichen Grundsatz der Nichtzurückweisung (nonrefoulement) gebunden, Menschen nicht an einen Ort zurückzuschicken, an dem ihnen Verfolgung oder andere schwere Menschenrechtsverletzungen drohen.
Nach libanesischem Recht können Abschiebungsanordnungen nur in Ausnahmefällen und auf der Grundlage einer individuellen Beurteilung durch eine Justizbehörde oder durch Entscheidung des Generaldirektors der Allgemeinen Sicherheit erlassen werden.
Der Libanon sollte Massenabschiebungen nach Syrien stoppen, die gegen den Grundsatz der Nichtzurückweisung verstoßen. Die Behörden sollten davon Abstand nehmen, diskriminierende Maßnahmen zu verhängen und abfällige Ausdrücke gegenüber syrischen Flüchtlingen zu verwenden. Sie sollten ein ordnungsgemäßes Verfahren respektieren und sicherstellen, dass jede Person, der die Abschiebung nach Syrien droht, die Möglichkeit hat, einen Anwalt aufzusuchen, sich mit UNHCR zu treffen und ihren Fall für Schutz und gegen Abschiebung vor einem zuständigen Gericht geltend zu machen. Gerichte sollten jede Abschiebung verbieten, die einer Zurückweisung gleichkommt.
Auch die internationale Gemeinschaft muss ihren Verpflichtungen nachkommen, unter anderem durch eine Intensivierung ihrer Hilfe, insbesondere der Neuansiedlungs- und Alternativroutenprogramme, um Libanon im Hinblick auf die Anwesenheit von etwa 1,5 Millionen Flüchtlingen zu unterstützen. Im Jahr 2022 haben 13 Länder nur 7490 syrische Flüchtlinge, die im Libanon lebten, neu angesiedelt.