Das Massengrab der Flüchtlinge im Mittelmeer ist unsere Schuld
4. Juli 2019Die zentrale Mittelmeerroute, die jedes Jahr zehntausende Frauen, Männer und Kinder auf der Suche nach Rettung in brüchigen Booten wagen, wird immer gefährlicher, und die Zahl der Opfer steigt.
Es sind Menschen, die vor Krieg, Verfolgung oder Hungersnot flüchten, die oft nach längerer Haft in libyschen Gefängnissen sehr geschwächt sind. Die Todesgefahr für diese Menschen wird immer bedrohlicher durch das allmähliche Verschwinden von staatlichen Organisationen bzw. NGOs, die sich mit der Seerettung beschäftigen.
Das Sterben im Mittelmeer ist die Folge der Untätigkeit der Europäischen Union sowie der Verschärfung der italienischen Politik.
Die europäische und die italienische Politik setzen seit 2016 darauf, erstens die libyschen Seestreitkräfte zu stärken, damit Flüchtlinge und Migrant*innen auf dem Weg nach Europa abgefangen und nach Libyen zurückgebracht werden, zweitens informelle Abmachungen mit den in Menschenhandel involvierten Milizen zu treffen.
Überhört hingegen wurden wiederholte Anfragen der Zivilgesellschaft nach einer grundsätzlichen Reform der europäischen Migrationspolitik im Sinne der Eröffnung von regulären und sicheren Wegen für Migrant*innen und Flüchtlinge.
Die neue italienische Regierung hat die Blockade auf dem Seeweg beschlossen und aus dem ein Medienspektakel gemacht. Flüchtlinge und Migrant*innen werden tagelang ohne Rechtsgrundlage oder richterliche Entscheidung angehalten.
Die Folgen der Politik der „geschlossenen Häfen“ und der zusätzlichen Strategie der Kriminalisierung und Verleumdung der NGOs liegen auf der Hand: Mit der Vernichtung der NGO-Flotte für die Seerettung ist die Anzahl der Todesopfer im Meer in den Sommermonaten enorm gestiegen.
Ende von Mare Nostrum und das Scheitern der Europäischen Missionen. Die sogenannte Operation Mare Nostrum ist als Initiative der italienischen Regierung als Folge eines Schiffbruches vom 3.10.2013 entstanden, bei dem mehr als 200 Menschen starben. Zielsetzung von Mare Nostrum war die Rettung von Flüchtlingen, die von der libyschen Küste kommend auf dem Weg nach Italien oder Malta über den Canale di Sicilia in Seenot geraten.
Am 31.10.2014 hat die italienische Regierung bedauerlicherweise die Operation Mare Nostrum beendet. Stattdessen wurde unter europäischer Leitung die Operation Triton ins Leben gerufen, die als Ziel vorwiegend die Grenzkontrolle hat. Mare Nostrum und Triton sind was ihre Aufgaben, Zielsetzung, Zahlen, eingesetzte Ressourcen, Ergebnisse betrifft, zwei sehr verschiedene Operationen gewesen. Triton wurde 2018 von der an den neuen Migrationsrouten angepassten Operation Themis abgelöst.
Eine Nebenrolle spielt die Operation Sophia, 2015 entstanden und aktuell von den EU-Ländern verlängert, jedoch ohne Schiffe, die ihren Fokus auf Seerettung von Flüchtlingen hatte.
Leben, die vom Meer verschluckt wurden. Nach Angaben der IOM (International Organization for Migration) starben in den ersten fünf Monaten des Jahres 2019 543 Menschen bei dem Versuch, Europa zu erreichen, davon 343 nur im zentralen Mittelmeerraum.
Der Anteil der Menschen, die auf See starben, ist im Vergleich zu denen, die die libysche Küste verlassen haben, von einer Person pro 29 Versuchen im Jahr 2018 auf eine Person pro 6 Personen in diesem Jahr gestiegen.
Eine Zahl, die den Trends der letzten fünf Jahre entspricht: Keine Migrationsroute im Mittelmeer, ob zu Lande oder zu Wasser, hat in den fünf Jahren 2014-2019 so viele Menschen sterben lassen wie die von Nordafrika nach Italien: 14.768 Menschen wurden vom Meer verschluckt, zusätzlich zu den 1.878 Toten in Griechenland und 1.189 in Spanien.
In den letzten Monaten hat sich die Zahl der Fälle, in denen die wenigen noch im Mittelmeerraum tätigen NGOs einigen Dutzend Migrant*innen Hilfe geleistet haben, vervielfacht. Die daraus resultierenden Schwierigkeiten bei der Suche nach einem italienischen Hafen, an dem man an Land gehen kann, und die Gleichgültigkeit, die Europa allzu oft an den Tag legt, wenn es darum geht, eine Lösung für die Steuerung der Migrationsströme zu finden, stellen eine eindeutige Verletzung der Menschenrechte dar.
Es reicht nicht aus, die Häfen zu schließen. Insbesondere 2018 war ein schreckliches Jahr: Es kamen weniger Menschen als im Vorjahr, aber proportional starben viel mehr. 5,3% der Menschen, die zur italienischen Küste aufs Meer gefahren sind, haben es nicht geschafft, ein absoluter Rekord im Vergleich zu den Vorjahren und anderen Zielländern.
Tatsächlich hatte Italien 2,4% der Todesfälle bei der Gesamtzahl der Migrant*innen im Jahr 2017 und 2,5% im Jahr 2016 verzeichnet. Im Jahr 2018 verzeichnete Griechenland einen Todesfall pro 300 Menschen, Spanien 1,2 pro 100 und Italien, wie gesagt, 5,3 pro 100.
Abkommen mit Libyen. Nach Angaben des italienischen Innenministeriums kamen vom 1. Januar bis 10. Juni 2019 2.144 Menschen nach Italien, 85 Prozent weniger als 2018, 96 Prozent weniger als 2017. Dies ist eine der niedrigsten Zahlen der letzten Jahre und das Ergebnis einer Reihe damit zusammenhängender Ereignisse: erstens die harte Linie der Regierung, die sich seit einem Jahr offen gegen die Landungen ausspricht. Aber auch die Aktivitäten der libyschen Küstenwache trugen dazu bei, die Ankünfte in Italien zu reduzieren, indem sie seit Anfang des Jahres 2.747 Menschen nach Tripolis zurückgebracht haben (UNHCR-Daten vom 10. Juni), darunter etwa 270 Kinder.
Tatsächlich sind heute mehr Menschen gezwungen, in das Land zurückzukehren, aus dem sie zu fliehen versuchen. Und das, obwohl sich viele internationale Organisationen einig sind, dass Libyen nicht als sicherer Hafen angesehen werden kann.
Sicherheitsverordnungen. Die Situation der Flüchtlingen und Migrant*innen, die es geschafft haben, in Italien anzukommen, verschlechtern zwei Sicherheitserlässe des Innenministeriums. Die im September 2018 verabschiedete Sicherheitsverordnung erhöht die Zahl der Verbrechen, die zur Aussetzung von Asylanträgen ausländischer Staatsangehöriger führen.
Das Dekret hebt auch den Schutz aus humanitären Gründen auf. Es ist vor allem der letzte Aspekt, der derzeit am meisten diskutiert wird.
Humanitärer Schutz wurde bisher in Situationen gewährt, in denen die Bedingungen für die Gewährung von Asyl nicht erfüllt waren, aber die Menschen immer noch vor Konflikten, Verfolgung, Naturkatastrophen oder anderen bedrohlichen Ereignissen geflohen sind. Dieser dauerte zwei Jahre und ermöglichte den Zugang zu Arbeit, Sozialleistungen und Sozialwohnungen. Kurz gesagt, es war eine Aufenthaltserlaubnis, die Migrant*innen in gewisser Weise in das sozioökonomische Gefüge des Landes integrierte. Die meisten Migrant*innen in Italien gehören zu dieser Kategorie.
Mit einem zweiten Sicherheitserlass, verabschiedet am 14. Juni, geht die italienische Regierung mit eiserner Faust gegen Seenotrettung vor. In Artikel 1 des Dekrets heißt es nämlich, dass der Innenminister "die Einfahrt, den Transit oder das Anlegen von Schiffen in Hoheitsgewässer aus Gründen der Ordnung und Sicherheit einschränken oder verbieten kann", oder wenn davon ausgegangen wird, dass gegen das Einwanderungsgesetz verstoßen wurde und insbesondere, dass das Verbrechen " Beihilfe zur illegalen Einwanderung" begangen wurde.
In Seenot im Stich gelassen - die Fälle: NGOs, italienische Militärschiffe und Privatboote, die an der Landung durch die neuen Regelungen der italienischen Regierung gehindert und tagelang auf hoher See ausharren mussten.
Proactiva Open Arms Dezember 2018 - 8 Tage - 300 Personen
Aquarius September 2018 - 9 Tage - 629 Personen
Sarost 5 August 2018 - 22 Tage - 40 Personen
Asso 28 Juli 2018 - 1 Tag - 101 Personen
Proactiva Open Arms Juli 2018 - 5 Tage - 150 Personen
Lifeline Juni 2018 - 7 Tage - 230 Personen
Aquarius Juni 2018 - 2 Tage - 629 Personen
Diciotti August 2018- 10 Tage - 177 Personen
Open Arms März 2018 - 3 Tage - 218 Personen
Sea Watch Juni 2019 - 16 Tage - 53 Personen
Quelle: Amnesty Italien, 20. Juni 2019