Warum endeten die Hongkong-Proteste nicht mit der Aussetzung des Auslieferungsgesetzes?
Am 4. September 2019 kündigte die Regierung Hongkongs an, das Auslieferungsgesetz zurückzuziehen. Warum protestiert Hongkong trotzdem weiter? Zu diesem Zeitpunkt waren die Menschen auf den Straßen Hongkongs bereits monatelange massiver Polizeigewalt ausgesetzt gewesen, die das Vertrauen der Bevölkerung gegenüber der Regierung ernsthaft beschädigt hatte. Die Probleme mit dem Auslieferungsgesetz waren von Anfang an offenkundig. Doch statt auf Dialog, setzte die Führung in Hongkong auf Schlagstöcke, Tränengas, Gummigeschosse und willkürliche Festnahmen. Ihre Politik war eine Politik der Gewalt unter dem Einfluss Pekings. Der Protest gegen das Auslieferungsgesetz war daher zu diesem Zeitpunkt längst zu einer Bewegung gegen die Regierung Hongkongs, den Einfluss Chinas und für den Schutz der Rechte und Freiheiten der Bewohner*innen Hongkongs geworden.
Weiterhin fordern die Demonstrierenden in Hongkong, dass die Regierung ihre Charakterisierung der Proteste als "Unruhen" zurücknimmt. Sie fordern eine unabhängige Untersuchung der Gewaltanwendung durch die Polizei und die bedingungslose Freilassung aller im Rahmen von Protesten Verhafteten. Sie verlangen politische Reformen, die ein echtes allgemeines Wahlrecht gewährleisten – und zwar indem sie die Führung Hongkongs selbst wählen können – wie es in der Mini-Verfassung der Stadt, dem Grundgesetz – festgelegt ist.
Mehr dazu: Hong Kong Students: why we're still protesting
Was ist das „Nationale Sicherheitsgesetz“ für Hongkong?
Der chinesische Nationaler Volkskongress hat im Mai 2020 auf seiner jährlichen Plenarsitzung einen Beschluss über die "Einführung und Stärkung" nationaler Sicherheitsmaßnahmen in Hongkong verabschiedet, das sogenannte „nationale Sicherheitsgesetz“.
Dieser Beschluss fordert Gesetze gegen "Separatismus, Umsturz der Staatsmacht, Terrorismus und ausländische Einmischung" für Hongkong zu verabschieden. Er ermöglicht es auch chinesischen Sicherheitsbehörden, in Hongkong tätig zu sein, was bislang bisher aufgrund des Sonderstatus Hongkongs ausgeschlossen war.
Der Beschluss fordert außerdem die Regierung von Hongkong auf, Mechanismen und Institutionen der nationalen Sicherheit, einschließlich der Strafverfolgung, zu stärken. Er verpflichtet auch den Regierungschef Hongkongs, der Zentralregierung regelmäßig über die Erfüllung der Aufgaben zu berichten, die darin bestehen, "die nationale Sicherheit zu wahren und die Erziehung zur nationalen Sicherheit zu verbreiten und Verhaltensweisen, die die nationale Sicherheit gefährden, rechtmäßig zu verbieten".
Dieser Beschluss ist noch kein Gesetz, doch er ermächtigt den chinesischen Ständigen Ausschuss des Nationalen Volkskongresses, ein entsprechendes Gesetz auf den Weg zu bringen. Dieses „nationale Sicherheitsgesetz“ würden nach seiner Verkündung in Anhang III des Hongkonger Grundgesetzes aufgeführt, was bedeutet, dass es ohne Prüfung durch den Gesetzgebenden Rat Hongkongs in Kraft treten könnten, womit die örtlichen Gesetzgeber faktisch umgangen würden.
China missbraucht routinemäßig seinen eigenen Sicherheitsgesetze als Vorwand, um Menschenrechtsaktivist*innen ins Visier zu nehmen und alle Formen von Dissens zu bekämpfen. Es nutzt die vage und allumfassende Definition der „nationalen Sicherheit“, um die Vereinigungsfreiheit, die Meinungsfreiheit und das Recht auf friedliche Versammlung einzuschränken. Mit dem nationalen Sicherheitsgesetz für Hongkong zeigt China, dass es das gleich auch in Hongkong tun will, und zwar so bald wie möglich.
In China einem Verbrechen im Zusammenhang mit der nationalen Sicherheit angeklagt zu werden, kann Isolationshaft und geheime Inhaftierung bedeuten, ohne Zugang zu Anwälten oder Familien. Das nationale Sicherheitsgesetz ist deshalb eine existenzielle Bedrohung für die Rechtsstaatlichkeit in Hongkong und die Menschenrechte in der Stadt.
Update am 30.Juni 2020:
Der Ständige Ausschuss des Nationalen Volkskongresses in China hat das sogenannte Sicherheitsgesetz für Hongkong gebilligt. "Die Verabschiedung des Gesetzes zur nationalen Sicherheit ist ein schmerzlicher Moment für die Menschen in Hongkong und stellt die größte Bedrohung der Menschenrechte in der jüngeren Geschichte der Stadt dar", sagte Joshua Rosenzweig, Leiter des China-Teams von Amnesty International. Das Gesetz könnte ein Freipass zur Unterdrückung friedlicher Kritikerinnen und Kritiker werden. Es droht Hongkong in eine Art Polizeistaat zu verwandeln.
Das Sicherheitsgesetz erteilt der chinesischen Zentralregierung und der Hongkonger Regierung die Befugnis, in der Sonderverwaltungszone ein "Büro für nationale Sicherheit" einzurichten. Auf dem Festland werden Menschenrechtsverteidiger und Andersdenkende von solchen Stellen systematisch überwacht, drangsaliert, eingeschüchtert, unter Geheimhaltung inhaftiert, gefoltert und misshandelt.
"China hat diese Gesetze schnell und verschwiegen durchgesetzt. Das verstärkt die Befürchtung, dass Peking absichtlich eine Unterdrückungswaffe geschaffen hat, die gegen Regierungskritikerinnen und -kritiker eingesetzt werden soll. Sie könnte auch gegen Menschen gerichtet werden, die lediglich ihre Meinung äußern oder friedlich protestieren", sagte Joshua Rosenzweig.
Weitere Informationen zum sogenannten Sicherheitsgesetz für Hongkong