Türkei: Kein Job, keine Zukunft
22. Mai 2017Der öffentliche Sektor wird gezielt ausgeschaltet
Die Entlassung von mehr als 100.000 Beschäftigten im öffentlichen Sektor ist willkürlich und hat katastrophale Auswirkungen auf das Leben der Betroffenen. Zu diesem Ergebnis kommt ein aktueller Amnesty-Bericht, der die Situation vieler Menschen in der Türkei dokumentiert, die nach dem Putschversuch ihren Job verloren haben.
Der Bericht zeigt, dass Zehntausende – unter anderem Ärzt*innen, Polizist*innen, Lehrer*innen, Akademiker*innen und Soldat*innen – als „Terrorist*innen“ abgestempelt und vom öffentlichen Dienst ausgeschlossen wurden. Nun kämpfen sie darum, über die Runden zu kommen.
Die Razzien nach dem Putschversuch haben Schockwellen ausgelöst, die nach wie vor verheerenden Schaden im Leben vieler Menschen anrichten. Viele haben nicht nur ihren Job verloren, auch ihr Berufs- und Familienleben liegen in Trümmern.
Andrew Gardner, Researcher von Amnesty International für die Türkei
„Eine breite Bevölkerungsschicht in der Türkei ist nicht mehr fähig, ihren Beruf auszuüben. Ihnen wird gleichzeitig aber auch der Zugang zu alternativen Beschäftigungsmöglichkeiten versperrt.“
Auskommen mit Müh und Not
Der Bericht basiert auf 61 Interviews, die in Ankara, Diyarbakır und Istanbul geführt wurden. Sie zeigen, dass Menschen, die einst im öffentlichen Sektor gearbeitet haben, sich in einer katastrophalen Situation befinden: Das Fehlen von Unterstützung – einschließlich Sozialleistungen oder Rechtsschutz – zwingt sie dazu, von ihrem Ersparten zu leben. Sie sind auf die Hilfe ihrer Familie angewiesen, arbeiten schwarz oder halten sich mithilfe punktueller Unterstützung der Gewerkschaften über Wasser.
Viele Entlassene dürfen nicht privat in Berufssparten arbeiten, die dem Staat unterstehen, beispielsweise Recht oder Lehre. Ähnlich ist es bei entlassenen Polizist*innen und Militärbeamt*innen. Auch ihnen wurde per Bescheid verboten, eine ähnliche Arbeit im privaten Sektor anzunehmen. Die wenigen, die ihren Beruf im privaten Sektor fortsetzen dürfen – etwa Gesundheitsfachkräfte –, finden kaum Jobs, die ihrem früheren Gehalt entsprechen.
Einige Entlassungen – etwa Soldat*innen, die beim Putschversuch involviert waren – mögen gerechtfertigt sein. Doch das Fehlen von Kriterien, nach denen die Entlassungen stattfinden, und das Fehlen von Beweisen, die Verstöße der Betroffenen aufzeigen, macht eines deutlich: Dieses Vorgehen dient nicht, wie offiziell behauptet, dazu, Terrorismus zu bekämpfen. Stattdessen stecken offenkundig weitverbreitete missbräuchliche und diskriminierende Motive dahinter.
„Zehntausende Menschen vom Arbeitsmarkt abzuschneiden kommt einer professionellen und massenhaften Ausschaltung gleich. Es ist ganz klar Teil des aktuellen politischen Vorgehens, das deklarierte Kritiker*innen und Oppositionelle oder die, die von der Regierung als solche wahrgenommen werden, treffen soll“, sagt Gardner.
„Die Behörden müssen diese willkürlichen Entlassungen sofort stoppen und alle wieder einstellen, denen kein Fehlverhalten nachgewiesen werden kann. Die, die entlassen wurden, sollten Zugang zu einem raschen und effektiven Beschwerdeverfahren erhalten, damit die Vorwürfe geklärt werden, die Betroffenen Entschädigung erhalten und zu ihrem Beruf zurückkehren können.“