Über die Militäroffensive
Von Juni bis Oktober 2017 flogen die USA, Großbritannien und Frankreich Tausende Luftangriffe auf Rakka, um den IS zurückzudrängen. US-Bodentruppen unterstützten die Luftschläge durch Zehntausende Artillerieangriffe: Laut einem Sprecher des US-Militärs seien während der Offensive 30.000 Artilleriegeschosse abgefeuert worden. Das entspricht einem Artillerieschlag etwa alle sechs Minuten für vier Monate am Stück – das ist mehr als in jedem anderen Konflikt seit dem Vietnamkrieg.
Ungelenkter Artilleriebeschuss kann Ziele nur mit einer Genauigkeit von 100 Metern anvisieren und ist daher immer ungenau. Er stellt bei Einsatz in bewohnten Gebieten eine unverhältnismäßige Gefahr für die Zivilbevölkerung dar.
Zu Beginn der Offensive war der IS in Rakka bereits fast vier Jahre lang an der Macht. Die bewaffnete Gruppe hatte Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen. Diejenigen, die es wagten, sich ihr zu widersetzen, wurden gefoltert oder getötet.
Amnesty International dokumentierte, wie der IS Zivilist*innen als menschliche Schutzschilde missbrauchte, Fluchtwege verminte, Kontrollposten zur Einschränkung der Bewegungsfreiheit einrichtete und diejenigen erschoss, die zu fliehen versuchten.
Einsatz hochmoderner Untersuchungsmethoden
Für diese Untersuchung haben Amnesty International und Airwars zahlreiche Datensätze zusammengefügt und geprüft. Vertreter*innen von Amnesty International haben bereits während der Bombardierung mit ihren Recherchen in der Stadt begonnen: Sie waren vier Mal vor Ort, verbrachten insgesamt circa zwei Monate in Rakka, untersuchten mehr als 200 Einschlagsorte und interviewten über 400 Zeug*innen und Überlebende.
Das Projekt „Strike Trackers“ von Amnesty International erfasste, wann genau die mehr als 11.000 in Rakka zerstörten Gebäude von Geschossen getroffen wurden. Über 3.000 Digital-Aktivist*innen aus 124 Ländern beteiligten sich an diesem Projekt und analysierten dabei mehr als zwei Millionen Satellitenbilder. Außerdem analysierte das Digital Verification Corps von Amnesty International Video- und Bildmaterial, das während der Kämpfe aufgenommen worden war, und überprüfte es auf seine Authentizität.
Vertreter*innen von Airwars und Amnesty International analysierten in Echtzeit und nach den Kämpfen frei verfügbares Beweismaterial – darunter Tausende Social-Media-Posts. Sie erstellten auf diese Weise eine Datenbank mit den mehr als 1.600 Zivilist*innen, die diesen Berichten zufolge durch die Angriffe der Militärkoalition getötet wurden. Beide Organisationen ermittelten mehr als 1.000 Namen von Todesopfern, von denen Amnesty International bei seiner Arbeit vor Ort 641 verifizieren konnte. Für die restlichen Namen existieren jeweils mehrfach zuverlässige Quellen.
Familien in Sekunden ausgelöscht
Das Militär der USA, Großbritanniens und Frankreichs führten Tausende Luftangriffe in Wohngebieten durch, wodurch es zu zahlreichen zivilen Opfern kam.
Ein besonders tragischer Vorfall ereignete sich am frühen Abend des 25. September 2017, als ein Luftangriff der Militärkoalition ein fünfstöckiges Wohngebäude nahe der Maari-Schule im zentral gelegenen Stadtteil Harat al-Badu komplett zerstörte. Im Keller des Gebäudes waren vier Familien untergebracht. Fast alle Mitglieder dieser Familien – mindestens 32 Zivilist*innen, darunter 20 Kinder – wurden getötet. Eine Woche später kamen weitere 27 Menschen ums Leben, als ein Luftschlag ein nahegelegenes Gebäude zerstörte. Viele von ihnen waren Verwandte der Opfer des Angriffs am 25. September.
Zeit, Verantwortung zu übernehmen
Amnesty International und Airwars haben sowohl die US-geführte Militärkoalition als auch die Regierungen der USA, Großbritanniens und Frankreichs vielfach über die Ergebnisse ihrer Untersuchungen informiert. Darauffolgend hat die Militärkoalition die Verantwortung für den Tod von 159 Zivilist*innen übernommen, was zehn Prozent der ermittelten Gesamtopferzahl entspricht. Die restlichen Opfer wurden aber als „unglaubwürdig“ abgetan.
Bislang hat die Militärkoalition nichts unternommen, um den Berichten über zivile Opfer angemessen nachzugehen oder Augenzeug*innen sowie Überlebende zu interviewen. Sie hat zugegeben, dass sie keine Untersuchungen vor Ort durchführt.