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Presse © Amnesty International

Syrien: Unter ständigem Beschuss

24. August 2017

In Rakka sind Zivilist*innen in einem tödlichen Labyrinth gefangen

Tausende Zivilist*innen sitzen in Rakka fest und stehen von allen Seiten unter Beschuss. Seit Beginn der Offensive zur Rückeroberung der „IS-Hauptstadt“ im Juni wurden hunderte Zivilist*innen getötet oder verletzt, dokumentiert ein neuer Bericht von Amnesty International. In der nordsyrischen Stadt findet derzeit die entscheidende Phase der Kämpfe um die Kontrolle der Stadt statt.

Während die Kämpfe zur Rückeroberung von Rakka vom Islamischen Staat weiter an Intensität zunehmen, sind tausende Zivilist*innen in einem tödlichen Labyrinth gefangen.

Donatella Rovera, Beraterin für Krisenarbeit bei Amnesty International und Leiterin der Untersuchungen vor Ort

„Da bekannt ist, dass der IS Menschen als Schutzschilde einsetzt, müssen die Syrischen Demokratischen Kräfte und die USA ihre Anstrengungen zum Schutz von Zivilist*innen verdoppeln. Dazu gehört vor allem die Vermeidung unverhältnismäßiger und wahlloser Angriffe sowie die Einrichtung sicherer Fluchtwege.“

„Wenn die Kämpfe im Stadtzentrum ihren Höhepunkt erreichen, wird es noch gefährlicher werden. Es kann und muss mehr getan werden, um das Leben der eingeschlossenen Zivilist*innen zu schützen und ihnen sichere Fluchtwege aus der Kampfzone einzurichten.“

© Conflict Monitor by IHS Markit

„Es kann und muss mehr getan werden“

Der IS versucht mit unterschiedlichen Mitteln, Zivilist*innen an einer Flucht aus Rakka zu hindern und benutzt sie als menschliche Schutzschilde. Außerdem haben IS-Kämpfer*innen auf den Fluchtrouten Landminen und Sprengfallen verlegt und rund um die Stadt Checkpoints errichtet, um die Bewegungsfreiheit einzuschränken. Auf alle, die trotzdem versuchen herauszukommen, wird geschossen. Dazu kommen die ständigen Luftangriffe und Artilleriefeuer der US-geführten Militärkoalition, die die bewaffnete Gruppe der Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) unterstützt.

Augenzeug*innen berichteten außerdem, dass die von Russland unterstützen syrischen Regierungstruppen Zivilist*innen bombardiert hätten, die sich in Dörfern und Lagern südlich des Euphrat aufhielten – und zwar auch mit international geächteten Streubomben.

„Diejenigen, die in Rakka belagert werden, sind der schrecklichen Brutalität des IS ausgesetzt – daran besteht kein Zweifel. Doch die Verstöße des IS befreien die anderen Konfliktparteien nicht von internationalen rechtlichen Verpflichtungen, Zivilist*innen zu schützen. Dazu gehört die Auswahl rechtmäßiger Ziele, die Vermeidung von unverhältnismäßigen oder willkürlichen Angriffen sowie das Treffen aller möglichen Vorkehrungen, um die Folgen für die Zivilbevölkerung so gering wie möglich zu halten“, sagt Donatella Rovera.

Augenzeug*innen berichten

Die in Rakka eingeschlossenen Zivilist*innen sind durch den intensiven Artilleriebeschuss und die etwas begrenzteren Luftangriffe der Koalitionstruppen, für die die Bodentruppen der SDF die Koordinaten bereitstellen, massiv gefährdet. Mehrere, vor kurzem entkommene Geflüchtete berichteten Amnesty International, dass diese unaufhörlichen und häufig unpräzisen Angriffe in den letzten Wochen und Monaten zu einem Anstieg der zivilen Opfer geführt hätten.

Der Stadtteil Daraiya im westlichen Rakka wurde von der Militärkoalition massiv bombardiert, unter anderem zwischen dem 8. und 10. Juni. Eine Bewohnerin berichtete: „Das war die Hölle. Die Gegend wurde von vielen Granaten getroffen. Wir wussten nicht, wie wir uns schützen sollten. Einige Leute rannten von einem Platz zum anderen – um dann dort bombardiert zu werden. Wussten die SDF und die Koalition nicht, dass der Ort voller Zivilpersonen war? Wir saßen dort fest ... weil uns Deash [IS] nicht gehen ließ.“

Eine andere Bewohnerin beschrieb, wie am 10. Juni in einer Wohngegend von Daraiya zwölf Granaten einschlugen. Mehrere der einstöckigen Häuser wurden getroffen und mindestens zwölf Personen getötet, unter ihnen ein 75-jähriger Mann und ein 18 Monate altes Baby. Sie berichtet: „Die Granaten trafen ein Haus nach dem anderen. Das war unbeschreiblich, das war wie das Ende der Welt – der Lärm, die schreienden Leute. Dieses Blutbad werde ich nie vergessen.“

Hintergrund: Kämpfe in Rakka

SDF und die Koalitionstruppen haben am 6. Juni mit der Endphase ihrer Offensive zur Rückeroberung der Stadt Rakka vom IS begonnen. Mitte Juli begannen die von Russland unterstützen syrischen Regierungstruppen mit Luftangriffen auf Dörfer und Lager für Binnenvertriebene südlich der Stadt. Seit Beginn dieser neuen Offensive wurden hunderte Zivilist*innen bei Angriffen aller Konfliktparteien getötet oder verletzt.

Die Zahl der Zivilist*innen, die in Rakka festsitzen, ist unbekannt. Schätzungen der UN reichen von 10.000 bis 50.000 Personen. Es wird angenommen, dass viele von ihnen – wenn nicht die meisten – in der Altstadt und anderen IS-kontrollierten Gebieten als menschliche Schutzschilde benutzt werden.