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Syrien: Kriegsverbrechen durch türkische Streitkräfte und verbündete Milizen

18. Oktober 2019

Die türkischen Streitkräfte und verbündete syrische bewaffnete Gruppen haben während der Offensive in Nordostsyrien schwere Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen begangen. Dazu gehören summarische Hinrichtungen und rechtswidrige Angriffe auf Wohngebiete, bei denen Zivilpersonen getötet und verwundet wurden.

Amnesty International sammelte zwischen dem 12. und 16. Oktober 2019 Zeugenaussagen von 17 Personen, darunter Ärzt*innen und Rettungspersonal, vertriebene Zivilist*innen, Journalist*innen und lokale und internationale humanitäre Helfer*innen. Zudem wurde Videomaterial analysiert und verifiziert sowie medizinische Berichte und andere Unterlagen eingesehen.

Die gesammelten Informationen liefern bedrückende Beweise für willkürliche Angriffe der türkischen Streitkräfte und verbündeter syrischer Kämpfer in Wohngebieten; darunter Angriffe auf ein Haus, eine Bäckerei und eine Schule. Enthüllt werden auch grausame Details der kaltblütigen Erschiessung einer prominenten syrisch-kurdischen Politikerin, Hevrin Khalaf, durch Mitglieder von Ahrar Al-Sharqiya, einer Koalition syrischer bewaffneter Gruppen, die von der Türkei ausgerüstet und unterstützt wird.

„Die türkische Militäroffensive im Nordosten Syriens hat verheerende Auswirkungen auf das Leben der syrischen Zivilbevölkerung, die wieder einmal zur Flucht gezwungen wird und nun ständig willkürliche Bombardierungen, Entführungen und summarische Hinrichtungen befürchten muss. Das türkische Militär und seine Verbündeten legen eine schockierende Kaltherzigkeit an den Tag, was das Leben von Zivilpersonen angeht. Viele Menschen wurden in rechtswidrigen Angriffen auf Wohngebiete bereits verletzt oder getötet“, sagt Kumi Naidoo, Generalsekretär von Amnesty International.

Das türkische Militär und seine Verbündeten legen eine schockierende Kaltherzigkeit an den Tag, was das Leben von Zivilpersonen angeht. Viele Menschen wurden in Angriffen auf Wohngebiete bereits verletzt oder getötet

Kumi Naidoo, Generalsekretär von Amnesty International

„Die Türkei muss Verantwortung für die Handlungen der von ihr unterstützten, ausgestatteten und kontrollierten syrischen bewaffneten Gruppen übernehmen. Bisher hat die Türkei diesen Gruppen freie Hand gelassen, in Afrin und anderswo schwere Menschenrechtsverstöße zu begehen. Wir fordern die türkische Regierung auf, diese Verstöße zu beenden, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen und alle Zivilpersonen zu schützen, die in den von ihr kontrollierten Gebieten leben. Die Türkei kann ihrer Verantwortung nicht entgehen, indem sie Kriegsverbrechen an bewaffnete Gruppen auslagert“, sagt Kumi Naidoo.

Die Gesundheitsbehörde der kurdischen Verwaltung in Nordostsyrien sagte am 17. Oktober, dass seit Beginn der Offensive in Syrien mindestens 218 Zivilpersonen getötet wurden, darunter auch 18 Minderjährige. Laut Angaben der türkischen Behörden sind in der Türkei bis zum 15. Oktober infolge von Mörserangriffen durch kurdische Truppen 18 Zivilpersonen getötet und 150 verletzt worden. Sollten kurdische Streitkräfte tatsächlich zivile Ziele in der Türkei mit unpräzisen explosiven Waffen beschießen, so verstoßen sie damit gegen das humanitäre Völkerrecht und müssen diese rechtswidrigen Angriffe unverzüglich einstellen.

Nordostsyrien: Zivilbevölkerung unter Beschuss

Einer der entsetzlichsten Angriffe ereignete sich am 12. Oktober um etwa 7 Uhr morgens, als türkische Streitkräfte einen Luftangriff durchführten und zwei Geschosse in der Nähe einer Schule in Salhiyê einschlugen, in der zahlreiche vertriebene Zivilpersonen untergekommen waren. Ein kurdischer Mitarbeiter des Roten Halbmonds schilderte, wie er tote und verletzte Menschen aus den Trümmern barg:

„Es geschah alles so schnell. Insgesamt wurden sechs Menschen verletzt und vier getötet, darunter auch zwei Kinder. Ich konnte nicht erkennen, ob es Jungen oder Mädchen waren, weil ihre Leichen so geschwärzt waren. Sie sahen aus wie Kohle. Die anderen beiden Getöteten waren ältere Männer, sie sahen älter aus als 50. Ich bin immer noch unter Schock.“ Er erklärte außerdem, dass die nächste Front mehr als 1 Kilometer entfernt sei und sich zum Zeitpunkt des Angriffs keine Kämpfer*innen oder militärischen Ziele in der Nähe der Schule befanden.

Ein anderer kurdischer Mitarbeiter des Roten Halbmonds sprach mit Amnesty International über seinen Versuch, einen elfjährigen Jungen und ein achtjähriges Mädchen zu retten, die bei einem Granatenangriff verletzt wurden, als sie vor ihrem Haus in der Nähe der al-Salah-Moschee in Qamischli spielten. Er sagte, dass Qamischli seit dem 10. Oktober unterschiedslos beschossen werde und dass bereits mehrere Wohnhäuser, eine Bäckerei und ein Restaurant getroffen worden seien.

„Der Junge wurde am Brustkorb verletzt. Die Verletzung war furchtbar. Es war eine offene Wunde... und er konnte nicht atmen. Es sah aus, als hätte ein Granatsplitter seine Brust aufgerissen“, so der kurdische Mitarbeiter des Roten Halbmonds.

Der Junge starb später an seinen Verletzungen. Seine Schwester wurde ebenfalls von Granatsplittern getroffen und man musste ihr einen Unterschenkel amputieren. Der Mitarbeiter der Rettungsorganisation sagte, dass es in der Nähe weder Militärstützpunkte noch Kontrollpunkte gebe.

Am 13. Oktober führte die Türkei einen Luftangriff auf einen Markt durch, bei dem laut unabhängigen internationalen Beobachter*innen ein ziviler Fahrzeugkonvoi getroffen wurde, in dem u. a. mehrere Journalist*innen von Qamischli nach Ras al-Ain unterwegs waren. Laut Angaben des Roten Halbmonds wurden dabei sechs Zivilpersonen getötet, darunter ein Journalist, und 59 Menschen verletzt. Ein anwesender Journalist beschrieb den Angriff als „ein absolutes Massaker“. Er sagte, der Konvoi habe aus etwa 400 zivilen Fahrzeugen bestanden und es seien keine Kämpfer*innen anwesend gewesen, sondern lediglich eine Handvoll bewaffneter Bewacher*innen.

„Für den Beschuss eines zivilen Konvois gibt es keine Entschuldigung. Alle Konfliktparteien müssen das humanitäre Völkerrecht respektieren und alles unternehmen, um Schaden für die Zivilbevölkerung zu vermeiden oder wenigstens zu minimieren.“, betont Kumi Naidoo.

Für den Beschuss eines zivilen Konvois gibt es keine Entschuldigung. Alle Konfliktparteien müssen das humanitäre Völkerrecht respektieren und alles unternehmen, um Schaden für die Zivilbevölkerung zu vermeiden oder wenigstens zu minimieren.

Kumi Naidoo, Generalsekretär von Amnesty International

„Es gibt keine Rechtfertigung für den willkürlichen Beschuss von zivilen Bereichen mit unpräzisen Waffen wie zum Beispiel Mörsergranaten. Solche rechtswidrigen Angriffe müssen untersucht und die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden.“

Die USA ist der größte Waffenexporteur in die Türkei. Andere Länder, die Waffen an die Türkei liefern, sind Italien, Deutschland, Brasilien und Indien. Amnesty International fordert die Staatengemeinschaft auf, alle Waffenlieferungen an die Türkei und andere Konfliktparteien, auch kurdische Streitkräfte, umgehend auszusetzen, wenn glaubhafte Beweise dafür vorliegen, dass diese Parteien mit den Waffen Menschenrechtsverletzungen begehen oder ermöglichen und somit gegen das Völkerrecht verstoßen.

Entführungen und summarische Hinrichtungen

Amnesty International untersuchte zudem Zeugenaussagen, Videoaufnahmen und medizinische Gutachten in Verbindung mit dem Überfall auf die kurdische Politikerin Hevrin Khalaf, Generalsekretärin der Partei Zukunft Syriens, am 12. Oktober auf der internationalen Verkehrsstraße zwischen Rakka und Qamischli. Mitglieder von Ahrar Al-Sharqiya, einer Koalition syrischer bewaffneter Gruppen, zerrten die Politikerin aus ihrem Auto, schlugen sie und erschossen sie kaltblütig. Auch ihr Leibwächter wurde getötet.

Am selben Tag und am selben Ort töteten Mitglieder von Ahrar Al-Sharqiya mindestens zwei kurdische Kämpfer*innen. Sie entführten außerdem zwei Männer, beides Zivilpersonen, die für eine medizinische Organisation Medikamente transportierten. Laut Angaben ihrer Familienangehörigen ist der Verbleib der beiden Männer unbekannt. Amnesty International kann anhand vorhandener Videoaufnahmen bestätigen, dass die summarischen Hinrichtungen und die Entführung der beiden Zivilpersonen am Nachmittag des 12. Oktober stattfanden.

Eine enge Freundin von Hevrin Khalaf sagte Amnesty International, dass sie Hevrin angerufen habe und ein Mann ans Telefon gegangen sei, der sich als Kämpfer einer bewaffneten syrischen Oppositionsgruppe ausgegeben habe. Er sagte zu ihr auf Arabisch: „Ihr Kurden seid Verräter, ihr alle in der [PKK] Partei seid Spione.“ Er informierte sie außerdem über die Tötung von Hevrin Khalaf.

Ein Amnesty International vorliegendes medizinisches Gutachten listet zahlreiche Verletzungen auf, die Hevrin Khalaf zugefügt wurden. So wies sie z. B. mehrere Schusswunden am Kopf, im Gesicht und am Rücken auf und hatte Knochenbrüche im Gesicht, am Schädel und an den Beinen. An Teilen des Schädels fehlten ihr Haut und Haare, weil man sie an den Haaren herumgezerrt hatte.

„Wehrlose Menschen kaltblütig zu töten ist absolut verwerflich und ganz eindeutig ein Kriegsverbrechen. Die Tötung von Hevrin Khalaf und anderen Personen durch Ahrar al-Sharqiya muss unabhängig untersucht und die Verantwortlichen vor Gericht gestellt werden. Die Türkei ist in der Pflicht, dafür zu sorgen, dass von ihr kontrollierte Truppen keine weiteren Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverstöße begehen. Wenn die Türkei ihre Verbündeten nicht zur Ordnung ruft und die Straflosigkeit für Menschenrechtsverstöße nicht beendet, wird dies zu weiteren Gräueltaten führen“, so Kumi Naidoo.

Wehrlose Menschen kaltblütig zu töten ist absolut verwerflich und ganz eindeutig ein Kriegsverbrechen.

Kumi Naidoo, Generalsekretär von Amnesty International

Humanitäre Lage spitzt sich zu

Mitarbeiter*innen internationaler und lokaler Hilfsorganisationen sagten Amnesty International, dass das Zusammenspiel mehrerer Faktoren zu einem Worst-Case-Szenario geführt hätte: der Abzug der US-amerikanischen Truppen aus dem Nordosten Syriens, die türkische Militäroffensive und die Beteiligung syrischer Regierungstruppen an den Kämpfen.

Es besteht große Sorge um die 100.000 Vertriebenen und ihren Zugang zu Nahrung, Trinkwasser und Medikamenten, sowie die langfristigere Bereitstellung von Hilfsleistungen. In den Lagern für Binnenvertriebene wie z. B. dem Flüchtlingslager al-Hol ist die Bevölkerung komplett von humanitärer Hilfe abhängig. Am 10. Oktober warnten 14 internationale humanitäre Einrichtungen, dass die Offensive den Zugang der Bevölkerung zu Hilfslieferungen abschneiden könnte. Einige Tage später schätzte das Internationale Komitee vom Roten Kreuz, dass die Kampfhandlungen zur Vertreibung von 300.000 Menschen und damit zu einer massiven Wasserknappheit führen könnten.

Viele vertriebene Menschen wissen nicht wohin und schlafen auf der Straße, in Gärten oder in Waldstücken. Manche suchen in Schulen Schutz.

 In Derbassiya besteht etwa 90% der Bevölkerung aus Binnenvertriebenen. Ein Mann, der mit seiner Familie dorthin geflohen war, sagte Amnesty International, dass etwa die Hälfte davon bei Verwandten im Süden untergekommen sei und der Rest in Schulen und Moscheen Unterschlupf gesucht habe.

„In Süd-Derbassiye gibt es keine humanitären Organisationen. Wir haben keine gesehen. Wir brauchen grundlegende Dinge wie Wasser, Nahrungsmittel, Kleidung, Decken und Matratzen. Wir brauchen eine medizinische Klinik... der Winter kommt. Wir brauchen eine Lösung, besonders für die Familien, die im Freien leben“, sagt er.

Ein Mitarbeiter einer Hilfsorganisation berichtete Amnesty International: „Menschen, die bereits an chronischen Erkrankungen leiden, sind besonders gefährdet. Ihr Überleben hängt davon ab, wie lange diese Kämpfe andauern, und ob wir zukünftig noch arbeiten können.“

Viele Menschen zeigten sich sehr besorgt darüber, dass die Sicherheitslage zur vermehrten Evakuierung von Mitarbeiter*innen internationaler Organisationen führen könnte, und dass der Vormarsch syrischer Regierungstruppen ein Risiko für arabische und kurdische Mitarbeiter*innen sowie für Binnenvertriebene darstellen könnte. Es wird zudem befürchtet, dass Hilfsorganisationen in ihren wichtigen grenzübergreifenden Aktivitäten eingeschränkt werden könnten.

„Alle Konfliktparteien – einschließlich die Türkei, mit der Türkei verbündete bewaffnete Gruppen, die syrische Regierung und kurdische Truppen – müssen lokalen und internationalen humanitären Einrichtungen uneingeschränkten Zugang gewähren.

Die anhaltende Militäroffensive der Türkei hat dafür gesorgt, dass Tausende Menschen, die bereits vertrieben waren und sich an sicheren Orten befanden, diese nun wieder verlassen mussten. Die Angriffe der Türkei behindern lebensrettende Hilfsleistungen ein und es droht eine humanitäre Katastrophe in einem ohnehin bereits kriegsgerüttelten Land“, so Kumi Naidoo.