Südsudan: „Solange wir leben, sind wir nicht sicher“
17. April 2017Der Konflikt im Südsudan hat bereits über eine Million Menschen zur Flucht gezwungen
Grausame Gewaltexzesse, Hunger und Angst im anhaltenden Konflikt im Südsudan haben zur Vertreibung Hunderttausender Menschen aus der fruchtbaren Region Äquatoria geführt. Dies geht aus einem neuen Bericht von Amnesty International hervor.
Vertreter*innen von Amnesty International reisten im Juni in die Region und dokumentierten gravierende Menschenrechtsverletzungen und Völkerrechtsverstöße, darunter auch Kriegsverbrechen – insbesondere durch Regierungstruppen, aber auch durch bewaffnete oppositionelle Gruppen. Knapp eine Million Menschen sind inzwischen vor diesen Gräueltaten unter anderem in das Nachbarland Uganda geflohen.
Die Eskalation der Kampfhandlungen in der Region Äquatoria hat zu brutalen Übergriffen auf die Zivilbevölkerung geführt. Männer, Frauen und Kinder werden erschossen, mit Macheten zerhackt und in ihren Häusern bei lebendigem Leib verbrannt. Frauen und Mädchen sind ständig in Gefahr, entführt und vergewaltigt zu werden.
Donatella Rovera, Beraterin für Krisenarbeit bei Amnesty International
„Häuser, Schulen, medizinische Einrichtungen und humanitäre Organisationen werden geplündert, verwüstet oder niedergebrannt. Hunger wird in diesem Konflikt als Waffe eingesetzt.“
Massaker und vorsätzliche Tötungen
Zahlreiche Augenzeug*innen in Ortschaften rund um die Stadt Yei berichteten Amnesty International, dass Regierungstruppen und ihre verbündeten Milizen vorsätzlich und rücksichtslos Zivilist*innen töteten. Menschen, die diesen Massakern selbst entkommen sind, bestätigen diese Aussagen.
Bei einem Angriff am Abend des 16. Mai 2017 nahmen Regierungssoldat*innen in der Ortschaft Kudupi im Bezirk Kajo Keji nahe der Grenze zu Uganda einige Männer willkürlich fest. Sie zwangen acht in eine Hütte, verriegelten die Tür, zündeten sie an und feuerten noch zahlreiche Schüsse auf die brennende Hütte ab. Sechs Männer wurden dabei getötet – zwei von ihnen verbrannten und vier wurden erschossen, als sie versuchten zu fliehen. Dies erfuhr Amnesty International von Überlebenden.
Joyce, eine Mutter von sechs Kindern aus der Ortschaft Payawa südlich von Yei, berichtete, wie ihr Mann und fünf weitere Männer am 18. Mai 2017 bei einem ähnlichen Angriff getötet wurden. Sie sagte Amnesty International außerdem, dass die Dorfbewohner*innen bereits vor dem Massaker wiederholt von Soldat*innen angegriffen worden waren: „Dies war schon das fünfte Mal, dass das Dorf von der Armee angegriffen wurde. Die ersten vier Male plünderten sie viel, töteten aber niemanden. Sie kamen immer, nahmen Leute fest und folterten sie, und stahlen Dinge. Die Folterungen erfolgten immer an geheimen Orten. Sie nahmen oft auch junge Mädchen fest, vergewaltigten sie und ließen sie dann wieder frei. [Sie vergewaltigten] Susie, die 18-jährige Nichte meines Mannes, [im Dorf] am 18. Dezember 2016.“
Am 21. Mai 2017 wurden neun Personen von Armeeangehörigen einer Kaserne nahe Gimunu, 13 Kilometer außerhalb von Yei, entführt. Mitte Juni wurden ihre Leichen während einer polizeilichen Untersuchung entdeckt – die Opfer waren allem Anschein nach mit Macheten getötet worden. Bisher ist niemand für diese Tötungen zur Rechenschaft gezogen worden, was offenbar nicht ungewöhnlich ist in Fällen, in denen die Polizei versucht, die Tötung von Zivilist*innen durch Armeeangehörige zu untersuchen.
Regierungstruppen fallen offenbar häufig in Dörfer ein, um an der Bevölkerung Vergeltung für die Aktivitäten von Oppositionstruppen in derselben Gegend zu üben. Die Täter*innen müssen dafür mit keinerlei strafrechtlichen Konsequenzen rechnen.
Angehörige bewaffneter Oppositionsgruppen haben ihrerseits vorsätzlich Zivilist*innen getötet, die sie als Regierungsunterstützer*innen betrachten. Viele von ihnen gehören der ethnischen Gemeinschaft der Dinka an oder sind Geflüchtete aus den Nuba-Bergen.
Sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt
Amnesty International dokumentierte einen starken Anstieg an Fällen von Entführung und Vergewaltigung von Frauen und Mädchen in der Region Äquatoria, seitdem die Kämpfe im Jahr 2016 eskalierten.
Hier sind Frauen und Mädchen erst dann sicher, wenn sie tot sind – solange wir leben, sind wir nicht sicher, so schlimm ist die Lage.
Mary, eine 23-jährige Mutter von fünf Kindern
Im April 2017 brachen drei Regierungssoldaten nachts in ihr Haus ein, zwei von ihnen vergewaltigten sie. Mary floh daraufhin mit ihren Kindern in ein leerstehendes Haus. Als dieses von einem Unbekannten angezündet wurde, musste sie erneut fliehen.
Frauen sind besonders dann von sexuellen Übergriffen bedroht, wenn sie ihr Dorf verlassen, um in der Umgebung nach Nahrung zu suchen. Allerdings müssen sie sich wegen erschöpfter Lebensmittelvorräte und Plünderungen immer häufiger in diese Situation begeben.
Die 29-jährige Sofia berichtete Amnesty International, dass sie zweimal von Oppositionstruppen verschleppt wurde. Das erste Mal wurde sie gemeinsam mit anderen Frauen etwa einen Monat lang und das zweite Mal eine Woche lang festgehalten. In dieser Zeit wurde sie wiederholt vergewaltigt.
Hunger als Waffe
Die Bevölkerung hat nur noch äußerst eingeschränkten Zugang zu Lebensmitteln. Sowohl Regierungs- als auch Oppositionstruppen schneiden die Nahrungsmittelversorgung in bestimmten Gebieten ab, plündern systematisch Lebensmittelmärkte und Häuser und nehmen Menschen ins Visier, die auch nur kleinste Nahrungsmittelmengen über die Kampflinien transportieren.
Ziel ist es, den Feind und seine Unterstützer auszuhungern. Beide Seiten werfen der Bevölkerung vor, den jeweiligen Feind mit Lebensmitteln zu versorgen oder vom Feind versorgt zu werden.
Am 22. Juni warnte die UNO, dass die Ernährungsunsicherheit sich in Teilen des Südsudan weiter verschärft hätte und die Situation noch nie zuvor so prekär war.
„Die grausame Ironie dieses bewaffneten Konflikts ist, dass er die Kornkammer des Südsudan – eine Region, die vor einem Jahr noch Millionen Menschen versorgen konnte – in ein mörderisches Schlachtfeld verwandelt und fast eine Million Menschen zur Flucht gezwungen hat“, so Joanne Mariner, Beraterin für Krisenarbeit bei Amnesty International.
„Alle Konfliktparteien müssen unverzüglich aufhören, gegen die eigene Bevölkerung vorzugehen Alle Verantwortlichen müssen zur Rechenschaft gezogen werden.“
Amnesty International fordert die internationale Gemeinschaft auf, nicht länger wegzusehen, sondern alles zu tun, um diese Gewalteskalation zu beenden. Wohlhabende Staaten, wie zum Beispiel Österreich, müssen ihren Beitrag leisten, indem sie Staaten wie Uganda, die die fliehenden Menschen aufnehmen, unterstützen.
Hintergrund
Die südsudanesische Region Äquatoria war bisher größtenteils von den politisch motivierten Kämpfen und Gewalttaten verschont geblieben, die seit 2013 im Südsudan herrschen. Die Kämpfe brachen damals zwischen Angehörigen der Sudanesischen Volksbefreiungsarmee SPLA auf der Seite des südsudanesischen Präsidenten Salva Kiir und Angehörigen der SPLA auf der Seite des damaligen Vizepräsidenten Riek Machar aus.
Die Lage änderte sich Mitte 2016, als sowohl Regierungs- als auch Oppositionstruppen in Yei einfielen, einer Stadt mit ca. 300.000 Einwohner*innen, 150 Kilometer südwestlich der Hauptstadt Juba und strategisch an einer wichtigen Handelsstraße mit Uganda und der Demokratischen Republik Kongo gelegen.
In der Stadt Yei befinden sich die wenigen Zivilpersonen, die nicht bereits geflohen sind, im Belagerungszustand. Da sie nicht in der Lage sind, sich Nahrungsmittel aus der Umgebung zu besorgen, herrscht dort akute Lebensmittelknappheit.
Regierungstruppen und unterstützende Milizen haben seit Mitte 2016 unzählige Gräueltaten begangen, ohne dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden. Auch bewaffnete Oppositionsgruppen sind in einem geringeren Umfang für Menschenrechtsverletzungen verantwortlich.