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© Maciej Moskwa / Nurphoto

Presse © Maciej Moskwa / Nurphoto

Rechtswidrige Pushbacks von afghanischen Asylsuchenden an der Grenze zwischen Polen und Belarus

30. September 2021

Zusammenfassung

  • 32 afghanische Asylsuchende sitzen seit mehr als vier Wochen an der Grenze fest
  • Kein Zugang zu Nahrung, Trinkwasser oder Medikamenten
  • Digitale Recherchen belegen Verstöße und legen Verdacht auf illegale Pushbacks nahe
  • Polen verhängte „Ausnahmezustand“ im Grenzgebiet zu Belarus: Kein Zugang für NGOs und Medien möglich
  • Amnesty: Polen verstößt gegen Menschenrechte – EU muss unverzüglich reagieren

Amnesty International hat auf der Grundlage von Fotos und Satellitenaufnahmen bisher unbekannte Details über die Situation von 32 afghanischen Asylsuchenden enthüllt, die seit mindestens 18. August an der Grenze zwischen Polen und Belarus festsitzen. Bei den Geflüchteten handelt es sich um mindestens vier Frauen, 27 Männer und ein 15-jähriges Mädchen, die keinen Zugang zu Nahrung, sauberem Wasser oder Medikamenten haben und ohne Unterkunft ausharren. Anhand von Satellitenbildern und Fotos zur Vermessung des Gebiets und einer 3D-Rekonstruktion hat Amnesty International die Position der Gruppe an der Grenze ermittelt und festgestellt, dass sie sich Ende August über Nacht von Polen nach Belarus bewegten, was offenbar eine rechtswidrige Rückführung war.

Die Rekonstruktion von Amnesty zeigt, dass sich viele der 32 Personen, die aus Belarus nach Polen gekommen waren, am 18. August auf der polnischen Seite der Grenze befanden und von polnischen Grenztruppen umstellt waren. Einen Tag später befanden sie sich wieder auf der belarussischen Seite der Grenze. Amnesty International ist der Ansicht, dass diese Bewegung ein Beweis für rechtswidrige Push-Backs sein könnte, da gerade zu diesem Zeitpunkt bewaffnete Angehörige der polnischen Grenztruppen das provisorische Camp der Geflüchteten umstellt hatten. „Polen hält diese Gruppe von Menschen seit Wochen unter grauenhaften Bedingungen an seiner Grenze fest", sagte Eve Geddie, Direktorin des EU-Büros von Amnesty International.

Unsere Recherchen zeigen unwiderlegbar, dass sich die Position der Geflüchteten am 18. August über Nacht von Polen nach Belarus verschoben hat, was stark darauf hindeutet, dass sie Opfer rechtswidriger Push-Backs waren.

Eve Geddie, Direktorin des EU-Büros von Amnesty International

Polen ignoriert Anweisungen des EGMR

Am 20. August haben alle 32 Afghan*innen, die an der Grenze festsaßen, mit Hilfe von Rechtsbeiständen Anträge auf internationalen Schutz in Polen gestellt und damit ihren Wunsch bekundet, in Polen zu bleiben. Die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) am 25. August erlassene und am 27. September verlängerte einstweilige Verfügung weist Polen an, der Gruppe Hilfe zu gewähren, darunter „angemessene Nahrung, Wasser, Kleidung, medizinische Versorgung und, wenn möglich, eine vorübergehende Unterkunft". Der EGMR weist auch darauf hin, dass die Gruppe von Afghan*innen angegeben hat, bereits am 8. August auf polnisches Gebiet gelangt und zurückgeschoben worden zu sein. Polen hat die Anweisungen des EGMR bislang nicht umgesetzt.

Keine Überprüfung der Situation möglich

Seit dem Vorfall sitzt die Gruppe zwischen polnischen und belarussischen Grenztruppen fest. Polen hat die Bewegungsfreiheit in dem Gebiet eingeschränkt und am 20. August Regeln eingeführt, nach denen an der Grenze aufgegriffene Personen nach Belarus zurückgeschoben werden können. Am 3. September verhängte Polen den „Ausnahmezustand" an der Grenze zu Belarus, wodurch Journalist*innen und NGOs der Zugang zu dem Gebiet verwehrt wurde. Der „Ausnahmezustand" verhindert die Überprüfung möglicher Menschenrechtsverletzungen und gibt Anlass zu Besorgnis über die Behandlung von Menschen auf der Flucht und Migrant*innen in dem Gebiet, einschließlich der rechtswidrigen Rückführung anderer Personen über die Grenze nach Belarus. Seit dem 19. September sind fünf Menschen im Grenzgebiet zwischen Polen und Belarus gestorben, unter anderem an den Folgen von Unterkühlung.

„Die furchtbare Situation, in der sich die Afghan*innen an der Grenze befinden, ist von der polnischen Regierung geschaffen worden. Die Ausrufung des ‚Ausnahmezustands' ist unrechtmäßig und muss aufgehoben werden. Die Situation an den Grenzen des Landes stellt nach europäischer und internationaler Definition keinen öffentlichen Notstand dar", sagte Eve Geddie.

Die Zurückweisung von Asylbewerber*innen ohne individuelle Prüfung ihres Schutzbedarfs verstößt gegen internationales und EU-Recht.  Die Einführung neuer Gesetze und Maßnahmen, die versuchen, Push-Backs zu legalisieren, ändert daran nichts.

Eve Geddie, Direktorin des EU-Büros von Amnesty International

Digitale Verifizierung durch Evidence Lab von Amnesty International

Um die Lage an der polnisch-belarussischen Grenze einschätzen zu können, hat das Evidence Lab von Amnesty International seit dem 12. August Satellitenaufnahmen auf beiden Seiten der Grenze und mehr als 50 Videos und Fotos von Vorfällen an der Grenze gesammelt und analysiert. Die Aufnahmen bestätigen die Bewegungen der Gruppe und die zunehmende Sicherung der Grenze in den vergangenen Wochen. Die Bilder stammen aus zahlreichen Quellen, z. B. von Einheimischen und der Presse, und umfassen auch Hubschrauber- und Satellitenaufnahmen. Unter Einsatz von Messbildverfahren und Foto-Abgleichen zur Rekonstruktion von 3D-Modellen konnte Amnesty International die Position der Gruppe an der Grenze, die mutmaßlichen Push-Backs zwischen dem 18. und 19. August und den Aufenthaltsort der Gruppe zwischen 12. August und 13. September feststellen. Es zeigt auch die unmenschlichen Bedingungen in dem provisorischen Camp, in dem die Gruppe derzeit verharrt.

Forderung nach Reaktion der EU: „Recht beim Namen nennen“

Amnesty International fordert die polnische Regierung auf, sicherzustellen, dass Menschen, die Schutz suchen, Zugang zum polnischen Staatsgebiet erhalten. Die Behörden müssen die Push-Backs einstellen und der Gruppe der an der polnisch-belarussischen Grenze gestrandeten Afghan*innen dringend angemessene Unterbringung, Nahrungsmittel, Wasser, sanitäre Einrichtungen, Zugang zu Rechtsbeiständen und medizinischer Versorgung zur Verfügung stellen. Polen sollte auch den Ausnahmezustand und Gesetze aufheben, die die Bewegung in der Grenzregion einschränken und Journalist*innen, Aktivist*innen, Nichtregierungsorganisationen und Rechtsbeiständen ungehinderten Zugang zu diesem Gebiet einräumen.

„Menschen haben in einem Land der Europäischen Union um Asyl gebeten und ein EU-Mitgliedsland verstößt gerade grob gegen deren Rechte. Die EU muss zügig und entschlossen reagieren, um diese schweren Verstöße gegen internationales und EU-Recht beim Namen zu nennen“, sagte Eve Geddie.

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