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© Molly Crabapple

Presse © Molly Crabapple

Neuer Amnesty-Bericht zu China: Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Xinjiang

10. Juni 2021

Zusammenfassung

  • Hunderttausende Angehörige muslimischer Minderheiten inhaftiert und gefoltert, Millionen Muslime systematisch unter Massenüberwachung gestellt
  • Bisher umfassendster Amnesty-Bericht zu Xinjiang beschreibt detailliert Indoktrination, Unterdrückung und Massenüberwachung innerhalb und außerhalb der Internierungslager
  • Über 50 Aussagen ehemaliger Häftlinge und 60 aktuelle Fälle von Inhaftierten zeugen von systematischer Folter, Gehirnwäsche und Erniedrigung
  • Amnesty International ruft in Urgent Action zur sofortigen Freilassung der Gefangenen auf

Mehr als 50 ehemalige Lagerinsass*innen machen neue und schockierende Angaben über ihre Haftbedingungen und Behandlung in Internierungslagern. Amnesty International fordert die Schließung dieser Lager und beruft sich auf mehr als 60 detaillierte Fallakten aktuell inhaftierter Personen.

Uigur*innen, Kasach*innen und andere vornehmlich muslimische ethnische Minderheiten in der Uigurischen Autonomen Region Xinjiang in China werden systematisch und massenhaft inhaftiert, gefoltert und verfolgt. Dieses Vorgehen der chinesischen Regierung kommt Verbrechen gegen die Menschlichkeit gleich. Dies stellt Amnesty International in einem Bericht zum Auftakt einer neuen Kampagne fest.

Seit 2017: Religiöse Traditionen, kulturelle Praktiken und lokale Sprachen werden ausgemerzt

Der 160-seitige Bericht mit dem Titel ‘Like We Were Enemies in a War’: China’s Mass Internment, Torture, and Persecution of Muslims in Xinjiang enthält Dutzende Zeugenaussagen von ehemaligen Inhaftierten, in denen die extremen Maßnahmen beschrieben werden, die die chinesischen Behörden seit 2017 ergreifen, um die religiösen Traditionen, kulturellen Praktiken und lokalen Sprachen der muslimischen ethnischen Gruppen in der Region auszumerzen. Unter dem Deckmantel der „Terrorismusbekämpfung“ geraten Uigur*innen, Kasach*innen, Hui-Chines*innen, Kirgis*innen, Usbek*innen und Tadschik*innen ins Visier.

Überwachungssystem und „Umerziehungslager“

Die chinesischen Behörden haben in Xinjiang ein ausgeklügeltes Überwachungssystem kreiert und ein großes Netzwerk von Hunderten „Einrichtungen für Transformation durch Erziehung“ geschaffen. Bei diesen „Umerziehungslagern“ handelt es sich in Wirklichkeit um Internierungslager. Folter und andere Misshandlungen sind dort an der Tagesordnung und alle Aspekte des täglichen Lebens werden reglementiert, um durch Zwang eine sekuläre, homogene chinesische Nation zu schaffen und die Ideale der kommunistischen Partei durchzusetzen.

 

Die chinesischen Behörden haben in der Uigurischen Autonomen Region Xinjiang eine dystopische Schreckensherrschaft etabliert.

Agnès Callamard, Internationale Generalsekretärin von Amnesty International

„Gegen Uigur*innen, Kasach*innen und andere muslimische Minderheiten werden Verbrechen gegen die Menschlichkeit und andere schwere Menschenrechtsverletzungen begangen, die dazu führen könnten, dass ihre religiöse und kulturelle Identität ausgelöscht wird. Es sollte das Gewissen aller Menschen berühren, dass unzählige Personen in Internierungslagern einer Gehirnwäsche unterzogen werden und Folter und anderer erniedrigender Behandlung ausgesetzt sind, und Millionen weitere Menschen sich in einem strengen Überwachungsapparat nur in ständiger Furcht bewegen können.“

Masseninhaftierung und Folter

Der Amnesty-Bericht dokumentiert, dass in Xinjiang seit Anfang 2017 unzählige Angehörige ethnischer Minderheiten, die zum Großteil muslimisch sind, willkürlich inhaftiert werden. Hierzu zählen nicht nur Hunderttausende – möglicherweise sogar mehr als eine Million – Personen in Internierungslagern, sondern auch Hunderttausende Menschen, die in Gefängnissen inhaftiert wurden. Amnesty International hat mit mehr als 50 ehemaligen Inhaftierten gesprochen, die alle angaben, auf der Grundlage von offenbar in vollem Umfang rechtmäßigen Handlungen festgenommen worden zu sein – zum Beispiel wegen Besitzes eines religiösen Bildes oder wegen Kommunikation mit einer Person im Ausland. Die meisten von Amnesty International interviewten Überlebenden wurden zunächst auf Polizeiwachen vernommen, wo man ihre biometrischen und medizinischen Daten aufnahm, bevor sie in ein Lager verlegt wurden. Häufig mussten sie zum Verhör auf sogenannten „Tigerstühlen“ sitzen, Stahlstühlen mit Hand- und Fußfesseln, die für schmerzhafte Körperhaltungen sorgen. In den Polizeistationen werden die Inhaftierten routinemäßig geschlagen, in enge Zellen gepfercht und mit Schlafentzug gefoltert. Einige gaben an, man habe ihnen während der Vernehmung und Verlegung eine Kapuze über den Kopf gezogen und Hand- bzw. Fußfesseln angelegt.

Alle ehemaligen Inhaftierten, mit denen Amnesty International gesprochen hat, berichteten über Folter und andere Misshandlungen. Sie erlitten nicht nur körperliche Folter in Form von Schlägen, Elektroschocks, Einzelhaft, Fesselung (z. B. an Tigerstühle) sowie Wärme-, Nahrungsmittel-, Wasser- und Schlafentzug, sondern litten überdies an den kumulativen psychischen Folgen dieser täglichen entmenschlichenden Praktiken. Einige gaben an, 24 Stunden lang oder noch länger an einen Tigerstuhl gefesselt gewesen zu sein.

Überwachungsstaat

Wer aus einem Lager freikommt, wird mindestens einige Monate lang beinahe rund um die Uhr elektronisch und durch Beschattung überwacht. Unter anderem setzt die Regierung ein sogenanntes „Homestay“-Programm um, in dem Beamt*innen mit ehemaligen Inhaftierten unter einem Dach leben und jegliches „verdächtige“ Verhalten melden. Als „verdächtig“ gelten zum Beispiel friedliche religiöse Praktiken, die Nutzung nicht autorisierter Kommunikationssoftware (beispielsweise VPNs oder WhatsApp) sowie der Einkauf von „ungewöhnlichen“ Mengen Kraftstoff oder Elektrizität. Ehemalige Inhaftierte werden zudem stark in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt. In den Straßen patrouillieren unverhältnismäßig viele Sicherheitskräfte und es gibt Tausende Kontrollpunkte, die euphemistisch als „zweckmäßige Polizeiwachen“ bezeichnet werden.

Vertuschung durch die Behörden

Die chinesische Regierung unternimmt außerordentliche Anstrengungen, ihre Verstöße gegen internationale Menschenrechtsnormen in Xinjiang zu vertuschen. Wer sich öffentlich dazu äußert, wird von den Behörden bedroht, inhaftiert und misshandelt. Das Schicksal Hunderttausender Inhaftierter ist unbekannt.

China muss umgehend die Internierungslager schließen und alle willkürlich inhaftierten Menschen entlassen – auch diejenigen, die in Gefängnissen inhaftiert sind. Die systematischen Attacken gegen Muslime in Xinjiang müssen aufhören.

Agnès Callamard, Generalsekretärin von Amnesty International

„Die internationale Gemeinschaft muss ihre Stimme erheben und geschlossen handeln, um dieser abscheulichen Situation ein für alle Mal ein Ende zu bereiten. Die Vereinten Nationen müssen dringend einen unabhängigen Untersuchungsmechanismus einrichten und entsenden, um diejenigen zur Rechenschaft zu ziehen, denen völkerrechtliche Verbrechen vorgeworfen werden.“