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Irak: Zwischen den Fronten

11. Juli 2017

Die Kampfhandlungen in der irakischen Stadt Mossul forderten tausende Todesopfer

Ein neuer Bericht von Amnesty International zeigt die schockierende Anzahl verletzter, traumatisierter und getöteter Zivilist*innen auf, die während der Kämpfe zwischen den Fronten in West-Mossul festsaßen: Die bewaffnete Gruppe Islamischer Staat (IS) brachte Zivilist*innen aus Nachbardörfern gezielt in die umkämpften Gebiete von West-Mossul, setzte sie dort fest und missbrauchte sie als menschliche Schutzschilde. Gleichzeitig ergriffen die irakischen Streitkräfte und die Koalitionstruppen keine angemessenen Maßnahmen zum Schutz der Zivilbevölkerung: Sie setzten Waffen ein, die in bevölkerungsreichen Gegenden niemals eingesetzt werden dürften.

Der neue Amnesty-Bericht deckt die Kampfhandlungen in West-Mossul von Jänner bis Mitte Mai 2017 ab. Vertreter*innen von Amnesty International sprachen mit 151 Bewohner*innen von West-Mossul sowie mit Expert*innen. Der Bericht dokumentiert insgesamt 45 Angriffe, bei denen mindestens 426 Zivilist*innen getötet und mehr als 100 verletzt wurden. Er beinhaltet eine Analyse von neun Angriffen durch irakische Streitkräfte und die US-geführten Koalitionstruppen.

Es darf keine Straflosigkeit für die Gräueltaten geben, die die Zivilbevölkerung in Mossul mit ansehen musste. Auch die absolute Missachtung des menschlichen Lebens seitens aller Konfliktparteien darf nicht unbestraft bleiben.

Lynn Maalouf, Nahost-Expertin bei Amnesty International

„Ganze Familien wurden ausgelöscht, und viele der Toten liegen nach wie vor unter dem Schutt der Stadt begraben. Die Bewohner*innen von Mossul haben ein Recht darauf, von ihrer Regierung die Zusicherung zu erhalten, dass ihnen Gerechtigkeit und Wiedergutmachung gewährt werden.“

„Es muss umgehend eine unabhängige Kommission eingesetzt werden, um wirksame Untersuchungen aller Vorfälle einzuleiten. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen müssen veröffentlicht werden“, sagt Maalouf.

Zivilist*innen als menschliche Schutzschilde

Seit Oktober 2016 vertreibt der Islamische Staat systematisch Zivilpersonen aus Nachbardörfern in vom IS nach wie vor kontrollierte Gegenden. Dort wurden sie dann als menschliche Schutzschilde missbraucht.

Abu Haidar (Name geändert), ein Mann aus der Ortschaft Tel Arbeed, wurde zur Umsiedlung nach West-Mossul gezwungen. Er berichtete Amnesty International: „Der [IS] sagte, du musst gehen, sonst wirst du umgebracht. Wir wurden als menschliche Schutzschilde dorthin gebracht. Sie wollten, dass wir zwischen ihnen und den Geschossen stehen. Dies alles geschah kurz vor Beginn des Einsatzes um West-Mossul ... Immer wenn die irakischen Truppen vorrückten, fiel der IS zurück – und mit ihnen der Großteil der Zivilbevölkerung.“

Um zu verhindern, dass Zivilist*innen sich in Sicherheit brachten, schloss der IS die Menschen mittels verschweißter Türen und Sprengfallen in ihren Häusern ein. Hunderte, wenn nicht gar Tausende, die zu fliehen versuchten, wurden getötet.

Hasan (Name geändert) sprach mit Amnesty International darüber, wie Menschen, die versucht hatten zu fliehen, an Strommasten aufgehängt wurden: „Wir hatten keine Wahl. Wer blieb, der starb irgendwann infolge der Kampfhandlungen in seinem Haus. Wer floh, der wurde aufgegriffen, getötet und als Abschreckung an einem Strommast aufgehängt. Vier meiner Nachbarn wurden bei einem Fluchtversuch erwischt – und ich habe sie an Strommasten hängen sehen. Tagelang hingen sie dort.“

Einsatz unpräziser Waffen

Weil der IS die Zivilbevölkerung in umkämpfte Gebiete zwang und sie an der Flucht hinderte, füllten sich die vom IS kontrollierten Gegenden in West-Mossul mit Zivilist*innen. Doch die irakischen Streitkräfte und US-geführten Koalitionstruppen passten ihre Taktiken nicht an diese neue Situation an: Sie setzten weiterhin unpräzise explosive Waffen ein, die in bevölkerungsreichen Stadtgebieten verheerende Schäden anrichteten.

„Die Tatsache, dass der IS Menschen als Schutzschilde einsetzt, bedeutet keineswegs, dass die Truppen der Gegenseite keine rechtliche Verpflichtung haben, Zivilist*innen zu schützen. Bei der militärischen Planung hätte man den Einsatz von Waffen ganz besonders sorgfältig prüfen müssen, um sicherzustellen, dass diese Angriffe sich im völkerrechtlichen Rahmen bewegen“, sagt Maalouf.

Die US-geführten Koalitionstruppen und die irakischen Streitkräfte verfehlten bei ihren Angriffen regelmäßig ihr militärisches Angriffsziel und verletzten oder töteten stattdessen Zivilist*innen bzw. beschädigten oder zerstörten sie zivile Objekte. In einigen Fällen kann die Verletzung oder Tötung von Zivilist*innen offenbar entweder auf unangemessene Waffen oder unzureichende Sorgfalt bei der Identifizierung militärischer Ziele zurückgeführt werden.

Auch Angriffe, bei denen das angepeilte militärische Ziel offenbar getroffen wurde, zogen vermeidbare Verluste unter der Zivilbevölkerung nach sich, weil allem Anschein nach unangemessene Waffen eingesetzt bzw. die Ziele nicht sorgfältig genug ausgemacht wurden. So wurden beispielsweise am 17. März bei einem Luftangriff der USA auf Mossul mindestens 105 Zivilpersonen getötet. Ziel dieses Angriffs auf den Stadtteil al-Jadida war es, zwei IS-Scharfschützen zu töten.

„Die irakischen Streitkräfte und US-geführten Koalitionstruppen müssen dafür sorgen, dass der Kampf gegen den IS – und zwar nicht nur in Mossul, sondern auch anderswo im Irak und in Syrien – in einer Weise geführt wird, die mit dem Völkerrecht und internationalen Standards vereinbar ist. Alle an diesen Kämpfen beteiligten Staaten müssen sich neben dem militärischen Aspekt auch auf die Bereitstellung von Ressourcen konzentrieren, um die Notlage der vom IS festgesetzten und misshandelten Zivilbevölkerung zu mindern“, sagt Maalouf.

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