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Gleichgültigkeit gegenüber Gräueltaten

26. Februar 2019

Zusammenfassung

  • Unverantwortliches Handeln der internationalen Gemeinschaft beschleunigt Gewaltspirale im Nahen Osten und in Nordafrika
  • Regierungen wie in Ägypten, Syrien und Saudi-Arabien konnten gegen die eigene Bevölkerung vorgehen, ohne nennenswerte Konsequenzen fürchten zu müssen
  • Lichtblick: Kleine Fortschritte im Kampf für Frauenrechte und bei der Aufklärung früherer Menschenrechtsverletzungen
  • Amnesty veröffentlicht heute Bericht zur Menschenrechtslage im Nahen Osten und Nordafrika 2018

Der neue Amnesty-Bericht Human rights in the Middle East and North Africa: A review of 2018 dokumentiert, wie Regierungen in der ganzen Region die Bevölkerung skrupellos unterdrücken und brutal gegen Demonstrierende, die Zivilgesellschaft und politische Gegner*innen vorgehen – und das häufig mit der stillschweigenden Unterstützung machtvoller Verbündeter.

Die internationale Gemeinschaft hat im vergangenen Jahr auf massenhafte Menschenrechtsverletzungen im Nahen Osten und Nordafrika mit großer Gleichgültigkeit reagiert. Sie hat damit den verantwortlichen Regierungen signalisiert, dass sie ungestraft entsetzliche Menschenrechtsverletzungen begehen können.

Der Bericht von Amnesty International zeigt unter anderem, dass in Ägypten, dem Iran und Saudi-Arabien 2018 erheblich schärfer gegen kritische Stimmen und die Zivilgesellschaft vorgegangen wurde als zuvor. Die drei Länder sind nur Beispiele für die unangemessene internationale Reaktion auf die grassierenden Menschenrechtsverletzungen durch die Regierungen der Region.

Vor dem Hintergrund einer allgegenwärtigen Repression haben dennoch einige Regierungen kleine Schritte vorwärts gemacht. Die erzielten Verbesserungen sind vor allem den mutigen Menschenrechtsverteidiger*innen im Nahen Osten und Nordafrika zu verdanken.

Heba Morayef, Direktorin für den Nahen Osten und Nordafrika bei Amnesty International

„Sie werden diejenigen, die ihre Freiheit riskieren und sich gegen die Tyrannei wehren, daran erinnern, dass ihre Arbeit der Grundstein für die Veränderungen der kommenden Jahre ist“, sagt Heba Morayef.

Iran

2018 verhafteten Sicherheitskräfte bei einer Welle von Massenprotesten mehr als 7.000 Demonstrierende, Studierende, Journalist*innen, Umweltschützer*innen, Arbeiter*innen, Menschenrechtsverteidiger*innen und Frauenrechtsaktivist*innen. Sie protestierten gegen den diskriminierenden Verhüllungszwang durch den Hidschab.

Viele Festnahmen waren vollkommen willkürlich. In iranischen Gefängnissen kommt es immer noch zu Misshandlungen und Folter, viele Aktivist*innen und Medienvertreter*innen wurden als Strafe für angebliche Vergehen ausgepeitscht.

Amnesty kritisiert die Reaktion der Europäischen Union auf diese Menschenrechtsverletzungen: Die Antwort der EU, die einen Menschenrechtsdialog mit dem Iran führt, fiel schwach und sehr verhalten aus.

Saudi Arabien

Die Ermordung des Journalisten Jamal Khashoggi im Oktober 2018 löste einen bis dahin nicht dagewesenen globalen Aufschrei in der Öffentlichkeit aus. Er veranlasste Staaten wie Dänemark und Finnland zu einer ungewohnten Reaktion: Beide Länder stellten die Waffenlieferungen nach Saudi-Arabien ein. Wichtige andere Verbündete des Königreichs – darunter die USA, Großbritannien und Frankreich – weigerten sich dagegen, ein Rüstungsexportstopp zu verhängen. Die Staaten ermöglichten es Saudi-Arabien so, im Jemen-Konflikt weiterhin Schulen, Krankenhäuser und die Zivilbevölkerung anzugreifen. Die internationale Gemeinschaft schaffte es nicht, die Forderungen von Menschenrechtsorganisationen nach einer unabhängigen UN-Untersuchung des Mords durchzusetzen.

„Es bedurfte der kaltblütigen Ermordung von Jamal Khashoggi in einem Konsulat, dass eine Handvoll verantwortungsvoller Länder die Waffenlieferungen nach Saudi-Arabien einstellten. Saudi-Arabien führt eine Koalition an, die für Kriegsverbrechen verantwortlich ist und die zu der humanitären Katastrophe im Jemen beigetragen hat“, sagt Heba Morayef. „Doch auch dem globalen Aufschrei im Fall Khashoggi folgten keine konkreten Schritte um sicherzustellen, dass die Verantwortlichen für den Mord zur Rechenschaft gezogen werden.“

Ungestraft konnten die saudi-arabischen Behörden auch Regierungskritiker*innen, Akademiker*innen und Menschenrechtsverteidiger*innen verfolgen, einsperren und foltern. Im Zuge einer Verhaftungswelle von Kritiker*innen wurden im Mai 2018 mindestens acht Frauen ohne Anklage inhaftiert, die sich gegen das Fahrverbot für Frauen und das System der männlichen Vormundschaft gewehrt hatten. Nahezu alle saudi-arabischen Menschenrechtsverteidiger*innen sitzen im Gefängnis oder haben das Land verlassen.

Ägypten

Für Menschen in Ägypten ist es heute gefährlicher als zu irgendeinem anderen Zeitpunkt in der jüngeren Geschichte des Landes, friedlich ihre Regierung zu kritisieren: Im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen im März 2018 haben die Behörden mindestens 113 friedliche Kritiker*innen in Gewahrsam genommen. Außerdem setzten die staatlichen Stellen neue Gesetze in Kraft, die die Arbeit unabhängiger Medien behinderten. Zwei Frauen wurden festgenommen, weil sie sich auf Facebook gegen sexuelle Übergriffe gewehrt hatten. Eine von ihnen, Amal Fathy, wurde zu zwei Jahren Haft verurteilt. 

Fordere jetzt Freiheit für Amal

Länder wie Frankreich und die USA belieferten Ägypten weiterhin mit Waffen, die zur Unterdrückung der Menschen im eigenen Land eingesetzt werden.

Rüstungsexporte

„Verbündete der Regierungen in der Region haben immer wieder milliardenschwere Waffengeschäfte und Sicherheitskooperationen den Menschenrechten vorgezogen. Damit tolerieren sie Menschenrechtsverletzungen und schaffen ein Klima, in dem sich die Regierungen im Nahen Osten und Nordafrika unangreifbar fühlen und sich über dem Gesetz sehen“, sagt Philip Luther, Direktor für Research und Lobbyarbeit im Nahen Osten und Nordafrika bei Amnesty International.

„Es ist Zeit, dass auch die restlichen Staaten der Welt dem Beispiel von Dänemark, Finnland, den Niederlanden und Norwegen folgt: Diese Länder haben angekündigt, die Waffenverkäufen nach Saudi-Arabien einzustellen und damit klargestellt, dass es Konsequenzen hat, wenn Menschenrechte missachtet werden“, sagt Philip Luther.  

Amnesty International fordert jeden Staat dazu auf, keine Waffen und Rüstungsgüter mehr an Länder zu liefern, die am Jemen-Konflikt beteiligt sind – und zwar so lange, bis keine Gefahr mehr besteht, dass mit diesen Waffen schwere Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht und internationale Menschenrechtsnormen begangen oder ermöglicht werden. Amnesty fordert außerdem UN-Untersuchungskommissionen zu den Menschenrechtsverletzungen in Syrien und im Jemen sowie ein Syrien-Sondertribunal am Internationalen Strafgerichtshof.

Unterdrückte Meinungsfreiheit

In der gesamten Region Naher Osten und Nordafrika müssen die Regierungen für ihr Handeln keine Rechenschaft ablegen. Sie können ohne Einschränkung friedliche Kritiker*innen verhaften, die Aktivitäten der Zivilgesellschaft einschränken und gegen Protestierende, die ihre Rechte einfordern, mit unverhältnismäßiger Gewalt vorgehen.

In den Vereinigten Arabischen Emiraten erhielt der bekannte Aktivist Ahmed Mansoor eine zehnjährige Haftstrafe, in Bahrain wurde Nabeel Rajab zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Beide Männer hatten in den Sozialen Medien ihre kritischen Überzeugungen zum Ausdruck gebracht.

„In fast allen Ländern der Region Naher Osten und Nordafrika zeigten die Regierungen keinerlei Respekt für die Rechte auf Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit“, sagt Heba Morayef.

„Kritiker*innen der Regierungen oder Protestierende, die friedlich auf der Straße gegen die Unterdrückung demonstrieren, zahlen einen hohen Preis. Einige von ihnen müssen für Jahre ins Gefängnis – nur, weil sie ihre Meinung gesagt haben. Die Behörden verhängen extrem harte Strafen, um Aktivist*innen einzuschüchtern und zum Schweigen zu bringen.“

Bewaffnete Konflikte: die Zivilbevölkerung als Zielscheibe

In Libyen, Syrien und im Jemen wurden auch 2018 Kriegsverbrechen und andere schwere Verletzungen des Völkerrechts begangen. Im Irak und in Syrien sind die bewaffneten Kampfhandlungen zwar zurückgegangen, doch die Zahl der zivilen Opfer bleibt hoch. Etwa zwei Millionen Menschen sind weiterhin Vertriebene im eigenen Land.

In Syrien begingen Regierungstruppen auch weiterhin Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit: Es kam zu gezielten Attacken auf Zivilist*innen und Krankenhäuser durch Artillerie und Luftangriffe. Dabei wurde auch verbotene Streumunition eingesetzt. Gleichzeitig trugen Russland und China durch eine Blockadepolitik im UN-Sicherheitsrat dazu bei, dass die Verantwortlichen für diese Verbrechen nicht zur Rechenschaft gezogen wurden.

Doch auch die US-geführten Koalitionstruppen töteten Hunderte und verletzten Tausende Zivilist*innen, als sie während ihrer Offensive in Al-Rakka gegen die bewaffnete Gruppe „Islamischer Staat“ vorgingen. Dabei verübten die Truppen auch Angriffe, die gegen das humanitäre Völkerrecht verstoßen. Sowohl in Syrien als auch im Irak gaben die Beteiligten nur sehr zögerlich zu, dass es während der Einsätze zivile Todesopfer gab.

Auch zur Lage in Libyen hat die internationale Gemeinschaft keinen wirksamen Rechenschaftsmechanismus installiert, beispielsweise im UN-Menschenrechtsrat. Dies hat die Konfliktparteien dazu ermutigt, unter völliger Missachtung des Völkerrechts weitere Menschenrechtsverstöße zu begehen.

„Es gibt keinen internationalen Druck, dass die Konfliktparteien, die Kriegsverbrechen und andere Verstöße gegen das Völkerrecht begehen, zur Rechenschaft gezogen werden. Das führt schon viel zu lange dazu, dass die Verantwortlichen für die Gräueltaten im Nahen Osten und Nordafrika straffrei ausgehen. Die Rechenschaftspflicht ist wesentlich – nicht nur, damit den Opfern dieser Verbrechen Gerechtigkeit erfahren. Sondern auch, weil dies die endlose Gewaltspirale unterbrechen und somit weitere Opfer verhindern würde“, sagt Philip Luther.

Kleine Hoffnungsschimmer für Menschenrechte

Trotz weit verbreiteter Unterdrückung und zahlreicher Menschenrechtsverletzungen gab es im Jahr 2018 auch einige kleine Verbesserungen: etwa bezüglich der Rechte von Frauen sowie von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans- und Intergeschlechtlichen (LGBTI).

In den Maghreb-Staaten Algerien, Marokko und Tunesien traten mehrere Gesetze zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen in Kraft. Die Palästinensische Autonomiebehörde im Westjordanland folgte dem Beispiel einiger anderer Länder wie Jordanien und Libanon: Sie hob eine Regel auf, die mutmaßlichen Vergewaltigern Straffreiheit versprach, wenn sie ihre Opfer heiraten.

In Saudi-Arabien hoben die Behörden endlich das Fahrverbot für Frauen auf – allerdings inhaftierten sie gleichzeitig viele der Menschenrechtsverteidigerinnen, die sich dafür eingesetzt hatten.

In weiten Teilen der Region werden gleichgeschlechtliche Beziehungen auch weiterhin kriminalisiert. Allerdings konnte eine gut organisierte Zivilgesellschaft in zwei Ländern kleine Erfolge in Sachen LGBTI-Rechte erzielen: In Tunesien wurde dem Parlament ein Gesetzentwurf vorgelegt, der die Legalisierung gleichgeschlechtlicher Beziehungen vorsieht. Im Libanon entschied ein Gericht, dass einvernehmlicher gleichgeschlechtlicher Sex keine Straftat darstellt.

Beide Länder ergriffen außerdem Maßnahmen, um auch die Verantwortlichen für bereits begangene Menschenrechtsverletzungen zur Rechenschaft ziehen zu können. Im Libanon trug das jahrelange Engagement der Zivilgesellschaft Früchte: Das Parlament verabschiedete ein Gesetz, das die Bildung einer Kommission vorsieht, die mehrere Tausend Fälle des Verschwindenlassens während des Bürgerkriegs untersuchen soll. Und in Tunesien hat sich die Wahrheitskommission erfolgreich gegen wiederholte Versuche der Behörden gewehrt, ihre Arbeit zu behindern.

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