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Frankreich: Strafen ohne Anklage oder Verfahren

22. November 2018

Zusammenfassung

  • Maßnahmen zur Bekämpfung von Terrorismus schränken skrupellos Grundrechte ein und haben negative Auswirkungen auf alle Menschen in Frankreich.

  • Neuer Amnesty-Bericht zeigt enorme Ermessensspielräume von sogenannten Kontrollverfügungen auf.

  • Menschen können außerhalb des regulären Strafjustizsystems verfolgt werden – besonders Muslime sind betroffen.

Vor einem Jahr wurde in Frankreich der Ausnahmezustand aufgehoben. Dennoch kommen Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus, die unter dem Ausnahmezustand eingeführt wurden, nach wie vor zum Einsatz. So gehen Behörden auf unrechtmäßige Weise und ohne Anklage oder Gerichtsverfahren gegen Personen vor und zahlreiche Menschen finden sich in einer Art Rechtsvakuum wieder. Das kritisiert Amnesty International in einem neuen Bericht.

Der Bericht zeigt auf, wie der Einsatz von Kontrollverfügungen, mit denen das reguläre Strafjustizsystem und seine Grundsätze umgangen werden können, die Menschenrechte in Frankreich gefährdet.

„Maßnahmen, die im Rahmen des Ausnahmezustands eingeführt wurden und eigentlich nur vorübergehend bestehen sollten, haben nun Eingang in die reguläre Gesetzgebung gefunden. Durch die skrupellose Einschränkung von Grundrechten haben sie negative Auswirkungen auf das Leben aller Menschen in Frankreich“, sagt Rym Khadhraoui, Expertin für Westeuropa bei Amnesty International.

Frankreich hat eine zweite Art von Justizsystem geschaffen. Darin können Menschen auf der Grundlage von weitgefassten und vagen Kriterien ins Visier genommen werden.

Rym Khadhraoui, Expertin für Westeuropa bei Amnesty International

„Frankreich hat damit eine zweite Art von Justizsystem geschaffen. Darin können Menschen auf der Grundlage von weitgefassten und vagen Kriterien ins Visier genommen werden. Es stützt sich auf geheime Informationen und räumt den Beschuldigten keine wirkliche Chance auf Verteidigung ein.“

Besonders Muslime betroffen

Verwaltungskontrollmaßnahmen gewähren den Behörden enorme Ermessensspielräume. Mit ihnen können Menschen außerhalb des regulären Strafjustizsystems verfolgt werden – eine mögliche Folge davon sind Menschenrechtsverstöße und Diskriminierung. Eine Gruppe, die hiervon besonders betroffen ist, sind Muslime.

In einer modernen Abwandlung des orwellschen „Gedankenverbrechens“ werden Kontrollmaßnahmen auf Basis dessen verhängt, was jemand in Zukunft möglicherweise tun könnte – und nicht auf der Grundlage bereits begangener Straftaten. Derartige Maßnahmen zur „Vorbeugung“ gegen Straftaten können zum Teil erhebliche Auswirkungen auf das Leben der Betroffenen und ihrer Familien haben.

Kontrollmaßnahmen stützen sich auf unpräzise Kriterien und in der Regel auf geheime Informationen. Sie ermöglichen es dem Innenministerium, eine ganze Reihe von Einschränkungen zu verhängen. Zum Beispiel das Verbot, einen bestimmten Ort zu verlassen oder spezielle Personen zu kontaktieren, oder die Vorgabe, sich täglich bei der Polizei zu melden.

„Schlimmer als eine Gefängniszelle“

Eine solche Verwaltungskontrollmaßnahme wurde gegen Rochdi erlassen: Anderthalb Jahre lang durfte er die Kleinstadt Échirolles im Südosten Frankreichs nicht verlassen. In dieser Zeit konnte er seine Mutter nicht besuchen, weil sie in einer anderen Gemeinde wohnte. Und er tat sich in Échirolles schwer, eine Arbeit zu finden. „Sie haben mein Leben ruiniert“, erklärte er Amnesty International. „In gewisser Weise ist es sogar schlimmer als eine Gefängniszelle, weil wir uns zwar im Freien bewegen, aber trotzdem eingesperrt sind. Im Gefängnis gibt es zumindest keine Alternative.“

Der Einsatz von Kontrollmaßnahmen führt häufig zu geradezu absurden Situationen. In Rochdis Fall gab es einen Widerspruch zwischen der richterlichen Anordnung, einer Arbeit nachzugehen, und den Einschränkungen, denen er aufgrund der Kontrollverfügung unterlag. Letztere führten schließlich dazu, dass er seinen Job verlor.

In Fällen wie dem von Rochdi führen Verwaltungskontrollmaßnahmen nicht nur zu einer unfairen Beschneidung des Rechts auf Freizügigkeit: Sie führen auch zu Einschränkungen des Rechts auf Privat- und Familienleben und des Rechts auf Arbeit. All dies verstößt gegen die völkerrechtlichen Verpflichtungen Frankreichs.

Kamel Daoudi: Eine ausweglose Situation

Kamel Daoudi unterliegt seit mehr als zehn Jahren einer Kontrollverfügung. Er muss in einer Ortschaft leben, die über 400 Kilometer von seiner Familie entfernt ist. Er muss sich dreimal am Tag auf der Polizeiwache melden. Darüber hinaus unterliegt er einer nächtlichen Ausgangssperre. Die französischen Behörden weigern sich, seine vorläufige Aufenthaltsbewilligung zu verlängern. Sie können ihn aber auch nicht in sein Heimatland Algerien zurückschicken, da ihm dort Folter drohen könnte. Theoretisch gibt es für Kamel Daoudi also keinen Ausweg aus der Situation. Er sagte Amnesty International: „Diese Maßnahme ist entmenschlichend. Mein ganzes Leben dreht sich nur um die mir auferlegten Einschränkungen. Es ist einfach nur absurd.“

Psychische Probleme, emotionaler Stress

Aus dem neuen Amnesty-Bericht geht außerdem hervor, dass Menschen, die während des Ausnahmezustands ins Visier geraten waren, danach aber nicht Ziel von Ermittlungen oder Anklage wurden, immer noch unter ernsten Folgen zu leiden haben. Diese Menschen berichteten, dass sie durch die Handlungen der Behörden traumatisiert wurden, und dass sowohl sie als auch ihre Familien mit psychischen Problemen und emotionalem Stress zu kämpfen haben. Die gegenwärtigen Kontrollmaßnahmen könnten zu ähnlich langfristigen Folgen führen.

„Der Ausnahmezustand in Frankreich ist aufgehoben worden zugunsten eines von dauerhaften und drakonischen Sicherheitsmaßnahmen geprägten Klimas. Außergewöhnliche Maßnahmen gelten mittlerweile als normal, konkrete Beweise wurden ersetzt durch geheime Informationen. Statt dem Rechtsweg können die Betroffenen mit einer Hetzjagd rechnen“, sagt Rym Khadhraoui.

„Natürlich ist es wichtig, dass die Regierung ihre Bürger*innen vor gewaltsamen Anschlägen schützt. Doch die Umgehung des Strafjustizsystems, um Menschen ins Visier zu nehmen, die möglicherweise in Zukunft Straftaten begehen könnten, ist absurd und nicht zu rechtfertigen. Die Kontrollverfügungen müssen abgeschafft werden.“

Hintergrund

Im Oktober 2017 hob die französische Regierung den Ausnahmezustand auf. Er war nach den Terroranschlägen von Paris im Jahr 2015 über das Land verhängt worden. Unter dem Ausnahmezustand, der bereits sechs Mal verlängert wurde, wandten sich die Behörden von einigen der menschenrechtlichen Verpflichtungen des Landes ab und führten eine Reihe von Sonderbefugnissen ein – darunter auch bestimmte Verwaltungskontrollmaßnahmen. Diese basieren in der Regel auf geheime Informationen (notes blanches) und können erlassen werden, ohne die Betroffenen offiziell einer Straftat anzuklagen oder strafrechtlich zu verfolgen.

Im November 2017 trat in Frankreich ein umstrittenes Antiterrorgesetz in Kraft.  Dieses Gesetz spricht den Verwaltungsbehörden auch nach Aufhebung des Ausnahmezustands weiterhin die Befugnis zu, Kontrollmaßnahmen zu verhängen und damit die Grundrechte einzuschränken.

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