Europa: Repressive Gesetze und systematische Einschränkungen verhindern friedlichen Protest
9. Juli 2024Zusammenfassung
- Neue Amnesty-Analyse des Rechts auf Versammlungsfreiheit in 21 europäischen Ländern
- Auch Österreich unter Kritik: Straflosigkeit bei Polizeigewalt, kriminalisierende Narrative und Ethnic Profiling bedrohen das Recht auf Versammlungsfreiheit
- Zunehmender Einsatz invasiver Überwachungstechnologien
In ganz Europa wird das Recht, sich friedlich zu versammeln, zunehmend eingeschränkt. In zahlreichen europäischen Staaten werden friedliche Demonstrant*innen verstärkt stigmatisiert, kriminalisiert und angegriffen, indem die Behörden ungerechtfertigt Beschränkungen verhängen und Strafmaßnahmen einleiten. Um abweichende Meinungen zu unterdrücken wird zu immer repressiveren Mitteln gegriffen, so Amnesty International in einem neuen Bericht mit dem Titel Under-protected and over-restricted: The state of the right to protest in 21 countries in Europe.
In der Analyse von 21 europäischen Ländern wird ein Muster repressiver Gesetze, übermäßiger Gewaltanwendung, willkürlicher Festnahmen und strafrechtlicher Verfolgung sowie ungerechtfertigter oder diskriminierender Einschränkungen deutlich, das sich über den gesamten Kontinent erstreckt. Ebenfalls klar erkennbar ist der zunehmende Einsatz invasiver Überwachungstechnologien, was zu einer systematischen Einschränkung des Demonstrationsrechts führt. „Die Recherchen von Amnesty International zeichnen ein zutiefst beunruhigendes Bild eines europaweiten Angriffs auf das Recht auf Protest“, so Shoura Zehetner-Hashemi, Geschäftsführerin von Amnesty International Österreich.
Das Recht zu protestieren droht in Europa durch tausende Maßnahmen schrittweise abgeschafft zu werden. Menschen, die auf die Straße gehen, sehen sich einer Lawine von zunehmend repressiven Einschränkungen, strafrechtlichen Sanktionen, staatlicher Gewalt, Diskriminierung und allgegenwärtiger Überwachung gegenüber.
Shoura Zehetner-Hashemi, Geschäftsführerin von Amnesty International Österreich
Wirksame Untersuchung von Polizeigewalt: Individuelle Kennzeichnung von Polizist*innen muss Pflicht werden
Auch Österreich gehört zu den insgesamt 21 Ländern, die von Amnesty International untersucht wurden – und kommt nicht gut weg. Besonders die Tatsache, dass beschuldigte Polizeibeamt*innen hierzulande die längste Zeit straflos blieben, wird kritisiert. Wobei Österreich nicht allein in der Kritik steht: Auch zahlreiche andere Staaten, u.a. Belgien, Frankreich, Griechenland, Deutschland, Italien, Portugal, Spanien, die Schweiz und das Vereinigte Königreich würden es mit der Rechenschaftspflicht der Polizei nicht so genau nehmen, so der Bericht.
Bei Versammlungen kommt es oft zu ungerechtfertigter Gewaltanwendung durch die Polizei – und hier herrschte in Österreich in den letzten Jahren ein Klima der Straflosigkeit. Missbrauchsvorwürfe gegen Polizeibeamt*innen führten in der Vergangenheit fast nie zu einer Anklage und Verfahren wurden meist eingestellt.
Charlotte Deiss, Juristin bei Amnesty International
Deiss kritisiert auch die Tatsache, dass in Österreich mit Gegenklagen durch die Polizei geantwortet wurde.
„Seit heuer gibt es nun endlich die Ermittlungs- und Beschwerdestelle und das war ein erster wichtiger Schritt, um Missbrauchsvorwürfe gegen die Polizei zu untersuchen. Dem muss aber unbedingt die gesetzliche Verankerung der Kennzeichnungspflicht von Polizist*innen folgen, sonst laufen Untersuchungen erst recht wieder ins Leere“, betont Deiss. Österreich gehört neben Italien, Luxemburg, Niederlande und Serbien zu den fünf von 21 untersuchten Staaten, in denen Polizist*innen keine individuelle Kennzeichnung tragen müssen.
Kriminalisierung von Protesten: Das beunruhigende Narrativ der Politik
Dass Protest in ganz Europa bewusst eingeschränkt wird, lässt sich auch aus vielen Wortmeldungen politisch Verantwortlicher ablesen. „Das in dem Bericht aufgezeigte toxische Umfeld, das eine ernsthafte Bedrohung für friedliche Proteste darstellt, wird maßgeblich von einem Narrativ geprägt, das von der Politik verbreitet wird und das Protestierende als Kriminelle darstellt und repressive Maßnahme rechtfertigen soll“, so Shoura Hashemi.
Europaweit werden Demonstrant*innen als „Terrorist*innen“, „Kriminelle“, „ausländische Agent*innen“, „Anarchist*innen“ und „Extremist*innen“ bezeichnet. Friedliche Akte des zivilen Ungehorsams werden zunehmend als Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder der nationalen Sicherheit dargestellt, was den Behörden einen Vorwand liefert, um Beschränkungen zu verhängen und internationale Menschenrechtsverpflichtungen zu umgehen. Dazu gehören unnötige Platzverweise durch die Polizei, übermäßige Gewaltanwendung, Festnahmen auf der Grundlage rechtlich unklarer Gesetze, Anklagen und Sanktionen, die auch Gefängnisstrafen umfassen.
In Deutschland, Italien, Spanien und der Türkei wurden Klimaaktivist*innen auch mit terrorismusbezogenen Bestimmungen und Gesetzen zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität und zum Schutz der nationalen Sicherheit ins Visier genommen. Auch in Ö wurden Klimaaktivist*innen unter anderen wegen dem Straftatbestand "schwere gemeinschaftliche Gewalt" angezeigt – das Verfahren wurde letztlich eingestellt.
Wir fordern dringend ein Ende dieser Kriminalisierung von Protest. Die Politik muss anerkennen, dass friedliche Proteste und Handlungen des zivilen Ungehorsams durch die Meinungsfreiheit und die Versammlungsfreiheit geschützt sind – und legitime Akte einer lebendigen Demokratie sind.
Charlotte Deiss, Juristin bei Amnesty International
Das bedeutet, so die Juristin, dass Akte des zivilen Ungehorsams nicht härter bestraft werden dürfen als andere, die ähnliche Handlungen begehen, ohne damit eine politische oder andere Meinung zum Ausdruck bringen zu wollen. Das Strafrecht darf nur als letztes Mittel eingesetzt werden, wenn keine weniger einschneidenden Maßnahmen zur Verfügung stehen, um ein legitimes öffentliches Interesse zu schützen.
Unrechtmäßige Anwendung von Gewalt, Überwachung und restriktive Verwaltungsvorschriften
Beunruhigend ist auch die europaweite Zunahme von übermäßiger und/oder unnötiger Gewaltanwendung durch die Polizei gegen friedliche Demonstrierende, einschließlich des Einsatzes von weniger tödlichen Waffen. „Auch in Österreich kommt es regelmäßig zu – wohlgemerkt rechtswidrigen – Auflösungen friedlicher Proteste, und zwar oft unter Anwendung übermäßiger und unnötiger Gewalt“, skizziert Deiss. In einigen Ländern kam die Anwendung von Gewalt laut Amnesty der Folter oder anderen Misshandlungen gleich. In Belgien, Finnland, Frankreich, Deutschland, Italien, Polen, Slowenien, Serbien und der Schweiz wurde von den Strafverfolgungsbehörden exzessive Gewalt gegen Minderjährige angewandt. Charlotte Deiss betont auch, dass „Eindämmungsmaßnahmen, wie etwa Einkesseln oder anderweitig abriegeln, nur eingesetzt werden sollen, wenn sie unbedingt erforderlich sind, um gewalttätige Demonstrant*innen zu isolieren.“
Auch der zunehmende Einsatz neuer Technologien und Überwachungsinstrumente durch viele europäische Staaten, darunter auch Österreich, um Demonstrierende gezielt und in großem Umfang zu kontrollieren, wird in dem Amnesty-Bericht scharf kritisiert. Zu diesen Maßnahmen gehören etwa Gesichtserkennungstechnologien, das Tracking und die Überwachung von Aktivitäten sowie die Erfassung, Analyse und Speicherung von Daten. Dazu Charlotte Deiss:
Der Einsatz von Gesichtserkennungstechnologien zur Identifizierung von Demonstrierenden kommt einer willkürlichen Massenüberwachung gleich und kann kein verhältnismäßiger Eingriff in die Rechte auf Privatsphäre, freie Meinungsäußerung, Vereinigungsfreiheit und friedliche Versammlung sein.
Charlotte Deiss, Juristin bei Amnesty International
Amnesty International fordert daher ein grundsätzliches Verbot solcher Überwachungstechnologien.
Vielerorts werden auch restriktive Verwaltungsvorschriften genützt, um Protestaktionen zu erschweren oder zu verbieten – etwa wenn eine Demonstration im Voraus nicht rechtzeitig angemeldet bzw. eine Genehmigung eingeholt wird, weshalb dann die Versammlung als „rechtswidrig“ eingestuft und ihre Auflösung angeordnet wird, oder die Verwaltungsübertretung dazu genutzt wird, die Beteiligten festzunehmen und strafrechtliche Sanktionen gegen Organisator*innen und Teilnehmer*innen zu verhängen. „Verwaltungsvorschriften dürfen nicht dazu verwendet werden, Versammlungen als rechtswidrig einzustufen und zu unterbinden“, erklärt Deiss. Für Österreich etwa fordert Amnesty International eine ausdrückliche Ausnahme der Anzeigepflicht bei spontanen Versammlungen.
Österreich: Maßnahmen gegen Ethnic Profiling gefordert
Die in dem Bericht festgestellten willkürlichen Massenüberwachungen, strengen polizeilichen Maßnahmen, übermäßigen Auflagen und die Gefahr strafrechtlicher Sanktionen schaffen Angst und schrecken von der Teilnahme an Versammlungen ab. Dieser „Abschreckungseffekt“ wirkt sich laut Amnesty unverhältnismäßig stark auf von Rassismus betroffene Menschen und marginalisierte Gruppen aus, die ohnehin einem höheren Risiko von Gewalt, Ungleichbehandlung, rassistischer und anderer Diskriminierung durch staatliche Stellen ausgesetzt sind. Zusätzlich scheinen viele Länder in diskriminierender Weise zwischen verschiedenen Protestbewegungen, Gruppen und Anliegen zu unterscheiden. So wurden etwa in Deutschland die geplanten Demonstrationen zum Gedenken an die palästinensische Nakba in Berlin in den Jahren 2022 und 2023 aufgrund von diskriminierenden Stereotypen über die zu erwartenden Teilnehmer*innen, die von der Polizei als „gewaltbereit“ bezeichnet wurden, vorsorglich verboten.
Auch in Österreich sind Menschen, die Rassismus erleben, im Rahmen von Versammlungen Diskriminierungen betroffen, u.a. von Polizeigewalt und ethnic profiling. „Davon spricht man, wenn Polizeibedienste ihre Amtshandlung auf Eigenschaften wie Hautfarbe, Sprache, vermutete oder tatsächliche ethnische Zugehörigkeit, Religion oder Staatsbürgerschaft abstellen“, so Deiss. Sie fordert in Österreich dringend wirksamen Maßnahmen dagegen, als allererstes eine statistische Erhebung, um diskriminierende Praktiken zu identifizieren und entsprechende Gegenmaßnahmen ergreifen zu können, sowie Schulungsmaßnahmen innerhalb der Polizei. „Außerdem braucht es klare polizeiliche Verfahren und Kriterien, um berechtigte und unberechtigte Gründe für einen Verdacht definieren zu können, sowie konkrete Überwachungsmöglichkeiten von Polizeikontrollen.“
Schutz von Journalist*innen
Last but not least ist im Zuge der Versammlungsfreiheit auch der Einsatz von Journalist*innen zu schützen. Amnesty kritisiert in diesem Zusammenhang u.a. Österreich, wo etwa die Polizei in Wien bei mehreren Protesten Journalist*innen daran gehindert hat, das Geschehen zu beobachten und darüber zu berichten, oder sie nicht angemessen vor Angriffen durch Demonstrierende geschützt hat. Bei der Räumung des Lobau Protestcamps im April 2022 richtete die Polizei eine separate Pressezone für Journalist*innen ein, die so weit vom Camp entfernt war, dass eine angemessene Beobachtung der Ereignisse unmöglich war.
Hintergrund & Zusammenfassung
Amnesty International hat in den vergangenen Jahren 21 europäische Staaten auf ihre Praxis und nationalen Bestimmungen im Zusammenhang mit Versammlungsfreiheit, friedlichen Protesten und Akten des zivilen Ungehorsams untersucht. Die Ergebnisse wurden nun in einem umfangreichen Bericht im Rahmen der globalen Kampagne „Protect the Protest“ vorgestellt, bei der sich Amnesty für das Recht auf Protest in der ganzen Welt einsetzt.
Das Ergebnis: Obwohl alle 21 in dem Bericht untersuchten Länder die wichtigsten Menschenrechtsinstrumente zum Schutz des Rechts auf friedliche Versammlung ratifiziert haben, wurden die internationalen und regionalen Bestimmungen vielerorts nicht in nationales Recht umgesetzt. Dies hat – in Verbindung mit der Verabschiedung repressiver neuer Gesetze, weitreichender Beschränkungen und aufwändiger Auflagen – ein zunehmend feindliches Umfeld für Proteste geschaffen.
Insgesamt zeigt sich in ganz Europa ein Muster repressiver Gesetze, übermäßiger Gewaltanwendung, willkürlicher Festnahmen und strafrechtlicher Verfolgung sowie ungerechtfertigter oder diskriminierender Einschränkungen.
Im Rahmen des Berichts wurden folgende Länder untersucht: Belgien, Deutschland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Irland, Italien, Luxemburg, die Niederlande, Österreich, Polen, Portugal, Schweden, die Schweiz, Serbien, Slowenien, Spanien, die Tschechische Republik, Ungarn, die Türkei und das Vereinigte Königreich.