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Behörden intensivieren gezielte Repressalien

18. Oktober 2018

ZusammenfassunG

Hunderte Tote und Tausende Verletzte: Neuer Amnesty-Bericht dokumentiert zunehmende Gewalt der nicaraguanischen Behörden gegen die Bevölkerung.

Keine Hinweise, dass Verantwortliche für Folter oder außergerichtliche Hinrichtungen vor Gericht gestellt wurden.

Willkürliche Festnahmen, Folter, tödliche Gewalt: Seit Anfang Juni intensiviert die Regierung von Präsident Daniel Ortega ihre Repressionsstrategie gegen die Bevölkerung. Ein aktueller Amnesty-Bericht dokumentiert schwere völkerrechtliche Verbrechen der nicaraguanischen Behörden zwischen 30. Mai und 18. September.

Der neue Bericht schließt an die Recherchen von Ende Mai an und zeigt auf, wie die Regierung ihre vorsätzlich tödliche Repressionsstrategie aufrechterhielt und noch intensivierte. Ziel war und ist es, die Proteste niederzuschlagen und all diejenigen zu bestrafen, die an ihnen teilgenommen haben. Präsident Ortega und Vizepräsidentin Murillo stehen an der Spitze dieser Strategie. Sie verteufeln die Protestierenden, um das gewaltsame Vorgehen der Behörden zu rechtfertigen, und bestreiten nach wie vor jegliche Menschenrechtsverletzungen.

„Präsident Ortega hat nicht nur Polizeikräfte eingesetzt, um Demonstrierende willkürlich festzunehmen und zu foltern. Er hat auch auf schwerbewaffnete regierungstreue Gruppen zurückgegriffen, um Menschen, die sich mutig gegen diese repressive Strategie stellten, einzuschüchtern, zu verletzen und zu töten“, sagt Erika Guevara-Rosas, Expertin für die Region Amerikas bei Amnesty International, und weiter:

„Die nicaraguanischen Behörden müssen alle regierungstreuen bewaffneten Gruppierungen umgehend auflösen und entwaffnen. Sie müssen dafür sorgen, dass die Polizei bei Demonstrationen Gewalt nur in einem Maß anwendet, das rechtmäßig, angemessen und notwendig ist. Statt Protestierende als ‚Terrorist*innen ‘ und ‚Putschist*innen‘ zu kriminalisieren, hat Präsident Ortega die Rechte auf friedliche Versammlung und freie Meinungsäußerung zu gewährleisten.“

Präsident Ortega muss die Rechte auf friedliche Versammlung und freie Meinungsäußerung gewährleisten.

Erika Guevara-Rosas, Expertin für die Region Amerikas bei Amnesty International

Vor Monaten begann die Regierung mit der „Operación Limpieza“ (Operation Säuberung), scharf gegen öffentliche Proteste gegen Sozialreformen vorzugehen. Bis zum 24. August wurden mindestens 322 Menschen getötet, hauptsächlich durch staatliche Akteure. Mehr als 2.000 Personen wurden verletzt. Unter den Getöteten sind auch 21 Polizist*innen. Die nicaraguanischen Behörden haben Berichten zufolge mindestens 300 Menschen wegen ihrer Beteiligung an Protestveranstaltungen angezeigt (Stand: 18. August). Es gibt keine Hinweise, dass auch nur eine einzige Person wegen Menschenrechtsverletzungen oder völkerrechtlichen Verbrechen wie Folter oder außergerichtlichen Hinrichtungen vor Gericht gestellt worden wäre.

ausgestattet mit Kriegswaffen

Die Behörden setzen zunehmend auf regierungstreue Gruppen, die mit militärischen Waffen ausgestattet sind und häufig mit der Polizei zusammenarbeiten, um Protestierende abzuschrecken, die Bevölkerung zu schikanieren und von den Demonstrierenden errichtete Straßensperren einzureißen. Bei der Belagerung der Nationalen Autonomen Universität Nicaragua in Managua am 13. Juli wurden Studierende, die den Campus besetzt hatten, von schwerbewaffneten regierungstreuen Gruppen willkürlich angegriffen. Zwei Menschen wurden dabei getötet und mindestens 16 verletzt. Gleichzeitig blockierte die Polizei die Ausgänge und sorgte so dafür, dass mehr als 200 Studierende in der Universität festsaßen.

Laut Recherchen von Amnesty International verfügen Polizeikräfte und regierungstreue Gruppen über folgende Waffen: AK-ähnliche Gewehre; Scharfschützengewehre der Machart Dragunov, Remington M24 und FN SPR; RPK- und PKM-Maschinengewehre; und sogar PG-7-Panzerfäuste. Einige dieser Waffen sind Kriegswaffen, die nicht für Einsätze der öffentlichen Sicherheit freigegeben sind.

Manche Protestierende sollen Berichten zufolge selbstgemachte Granatwerfer eingesetzt haben; eine Minderheit soll von Schusswaffen wie Schrotflinten und Gewehren Gebrauch gemacht haben. Dennoch rechtfertigt das nicht die großflächige, unverhältnismäßige und zumeist unterschiedslose Anwendung tödlicher Gewalt gegen alle Protestierenden. Aufgabe der Behörden ist, so wenig Gewalt wie möglich anzuwenden, um die Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit zu gewährleisten.

Der Bericht dokumentiert sechs mögliche außergerichtliche Hinrichtungen, die als Verbrechen nach dem Völkerrecht anzusehen wären. Hierzu zählt die Tötung des 16-jährigen Leyting Chavarría, der in der Stadt Jinotega in die Brust geschossen wurde, als die Polizei und regierungstreue Gruppen Straßensperren auflösten. Augenzeugenberichten zufolge wurde der Jugendliche, der lediglich mit einer Steinschleuder bewaffnet war, von einem Bereitschaftspolizisten getötet.

Folter und willkürliche Festnahmen

Die Bereitschaftspolizei soll sogar einen ihrer eigenen Kollegen, Faber López, getötet haben. Die Regierung machte bewaffnete „Terrorist*innen“ für seinen Tod verantwortlich. Laut seiner Familie wies sein Körper jedoch keinerlei Schusswaffenverletzungen, sondern vielmehr Folterspuren auf. Am Abend vor seinem Tod rief Faber López seine Familie an und sagte ihnen, dass er den Polizeidienst quittieren werde. Gleichzeitig äußerte er die Befürchtung, dass seine Kolleg*innen ihn töten wollten.

Darüber hinaus dokumentierte Amnesty mehrere Verstöße gegen das Rechtsstaatsprinzip sowie sieben Fälle möglicherweise willkürlicher Festnahmen. All dies scheint Teil der Strategie der Regierung zu sein, die Protestbewegung zu zerschlagen. Aus dem Bericht geht zudem hervor, wie die Behörden Folter einsetzten, um Protestierende zu bestrafen, Beweise zu fälschen und Informationen über Organisator*innen von Demonstrationen zu erhalten.

Amnesty International dokumentiert mindestens zwölf Fälle möglicher Folter, darunter auch die sexualisierte Folterung einer jungen Frau in einer offiziellen Hafteinrichtung. In mehreren Fällen trugen die Betroffenen körperliche Verletzungen davon, die auch einen Monat später beim Gespräch mit Amnesty noch sichtbar waren.

Viele Betroffene zeigen die Vorfälle aus Angst vor Repressalien nicht bei den Behörden an. Denn anstatt zeitnah für eine unparteiische und gründliche Untersuchung der Menschenrechtsverletzungen zu sorgen, haben die Behörden in der Vergangenheit häufig die Betroffenen und deren Verwandten schikaniert und bedroht.

Vertriebene im eigenen Land

Tausende Menschen in Nicaragua sind zu Binnenvertriebenen geworden: Am 31. Juli gab das UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) bekannt, dass beinahe 8.000 Menschen aus Nicaragua Asyl in Costa Rica beantragt hatten – durchschnittlich 200 Personen pro Tag. Weitere 15.000 Menschen hatten bereits um Termine für einen Asylantrag in den kommenden Wochen gebeten.

„Mit seinen immer skrupelloseren und ausgefeilteren Strategien zur Unterdrückung der Bevölkerung hat Präsident Ortega für die schlimmste menschenrechtliche Krise in Nicaragua seit Jahrzehnten gesorgt. Tausende Menschen sahen sich bereits gezwungen, ihre Häuser zu verlassen und in anderen Landesteilen oder im benachbarten Costa Rica Schutz zu suchen. Die Regierung unter Ortega muss dieser gewaltsamen Repression umgehend ein Ende setzen“, sagt Erika Guevara-Rosas.

Über den Bericht

Der Bericht von Amnesty International basiert auf zwei Recherchereisen nach Nicaragua und Costa Rica im Juli und September 2018. Amnesty-Mitarbeiter*innen führten 115 Interviews und dokumentierten 25 Fälle von Menschenrechtsverletzungen. Für die Kontextanalyse wertete zudem ein Team aus Sachverständigen mehr als 80 Audio/Video- und Bilddateien aus.

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