Aserbaidschan/Armenien: Zahlreiche Tote durch wahllosen Waffeneinsatz im Konflikt um Berg-Karabach
14. Jänner 2021Zusammenfassung
- Amnesty International untersuchte Angriffe beider Konfliktparteien in Aserbaidschan und Armenien
- Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht: Amnesty dokumentierte wahllose Angriffe, auch mit Streubomben, und den Einsatz von ballistischen Raketen und ungenauen Waffensystemen
- Amnesty fordert unparteiische Untersuchungen der Angriffe und Entschädigung für Betroffene
Im jüngsten Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan haben beide Konfliktparteien gegen das humanitäre Völkerrecht verstoßen. Das zeigen aktuelle Recherchen vor Ort von Amnesty International, die heute in einem neuen Bericht veröffentlicht werden: Die Streitkräfte haben ungenaue und wahllose Waffen – darunter Streubomben und Sprengwaffen mit großflächiger Wirkung in zivilen Wohngegenden – eingesetzt.
Insgesamt wurden bei dem 44-tägigen Konflikt zwischen Ende September und Anfang November 2020 mindestens 146 Zivilist*innen getötet, darunter auch mehrere Kinder und ältere Menschen; Hunderte wurden verletzt, zahlreiche Häuser und wichtige Infrastruktur zerstört.
„Mit dem Einsatz dieser ungenauen und tödlichen Waffen in der Nähe ziviler Gebiete haben die armenischen und aserbaidschanischen Streitkräfte gegen das Kriegsrecht verstoßen. Zivilist*innen wurden getötet, Familien auseinandergerissen und unzählige Häuser zerstört, weil alle Konfliktparteien ungenaue Waffen auf Dörfer und Städte gerichtet haben”, sagt Marie Struthers, Expertin für Osteuropa und Zentralasien bei Amnesty International, und sagt weiter:
Unsere Recherchen belegen ein Muster an wahllosen und unverhältnismäßigen Angriffen von beiden Seiten. Es gab wiederholt Angriffe auf zivile Wohngebiete weitab der Frontlinien, in deren Nähe es häufig auch keine militärischen Angriffsziele zu geben schien.
Marie Struthers, Expertin für Osteuropa und Zentralasien bei Amnesty International
Der neue Bericht von Amnesty International In the Line of Fire: Civilian casualties from unlawful strikes in the Armenian-Azerbaijani conflict over Nagorno-Karabakh basiert auf Recherchen vor Ort, bei denen Handlungen beider Konfliktparteien untersucht wurden. Der Bericht beschreibt 18 Angriffe durch armenische und aserbaidschanische Streitkräfte, bei denen rechtswidrig Zivilist*innen getötet wurden.
Amnesty fordert unparteiische Untersuchungen
Armenische Streitkräfte setzten ungenaue ballistische Raketen, ungelenkte Mehrfachraketenwerfer und Artillerie ein. Auch die aserbaidschanischen Streitkräfte nutzten ungelenkte Artilleriewaffen und Mehrfachraketenwerfer. Auf beiden Seiten wurden die wahllosen Angriffe auf zivile Gebiete und der Einsatz von Streubomben von offizieller Seite geleugnet – trotz eindeutiger Beweise, die dies belegen. Amnesty geht davon aus, dass die Zahl der Opfer unter der Zivilbevölkerung noch höher wäre, wenn bei Ausbruch des Konflikts nicht bereits so viele Menschen aus den betroffenen Gebieten geflüchtet oder in Kellern Zuflucht gesucht hätten.
„Die armenischen und aserbaidschanischen Behörden müssen sofort unparteiische Untersuchungen zum unerbittlichen und oft rücksichtslosen Einsatz schwerer Sprengstoffwaffen durch ihre Streitkräfte in zivilen Wohngebieten einleiten. Vor dem Hintergrund der derzeitigen Ausarbeitung von Sicherheitsvereinbarungen durch die armenische und die aserbaidschanische Führung ist es wichtig, dass die Verantwortlichen für diese Übergriffe schnell zur Rechenschaft gezogen werden und die Opfer eine Entschädigung erhalten“, sagt Marie Struthers.
Über die Amnesty-Recherchen
Nach dem Drei-Parteien-Abkommen vom 10. November 2020, das dem Konflikt ein Ende setzte, besuchten Mitarbeiter*innen von Amnesty International Ende November und Anfang Dezember 2020 Dutzende Schauplätze von Angriffen in Aserbaidschan und Armenien. Amnesty befragte 79 Überlebende, Augenzeug*innen und Angehörige jener, die bei den Angriffen ums Leben kamen, außerdem Angehörige ziviler und militärischer Behörden, Mitarbeiter*innen zivilgesellschaftlicher Organisationen und Journalist*innen. Das Krisenteam von Amnesty International analysierte Trümmer der bei den Angriffen verwendeten Munition und untersuchte Videos, Fotos und Satellitenbilder, die während des Konflikts gemacht wurden.