„Dies ist eine Negierung der zentralen Grundsätze der Menschlichkeit. Das muss aufhören“, forderte sie. Und weiter: „Die äthiopische Regierung muss unverzüglich Maßnahmen ergreifen, um Angehörige der Streitkräfte und verbündeter Milizen von sexualisierter Gewalt abzuhalten, und die Afrikanische Union (AU) sollte keine Mühen scheuen, um sicherzustellen, dass der Konflikt dem Friedens- und Sicherheitsrat der AU vorgelegt wird.“
Muster: Andere mussten zusehen
Das Muster der sexualisierten Gewalttaten, bei denen viele Überlebende auch der Vergewaltigung anderer Frauen beiwohnen mussten, deutet darauf hin, dass sexualisierte Gewalt weit verbreitet war und darauf abzielte, die Betroffenen und weitere Angehörige ihrer ethnischen Gruppe zu terrorisieren und zu demütigen. Zwölf Überlebende gaben an, dass Soldaten und Milizen sie vor Familienmitgliedern, einschließlich Kindern, vergewaltigt haben. Fünf von ihnen waren zu diesem Zeitpunkt schwanger.
Schwere gesundheitliche und psychische Folgen
Die Überlebenden leiden nach wie vor unter erheblichen körperlichen und psychischen Beeinträchtigungen. Viele klagten über körperliche Traumata wie anhaltende Blutungen, Rückenschmerzen, Mobilitätsverlust und Fisteln. Einige wurden nach der Vergewaltigung positiv auf HIV getestet. Schlaflosigkeit, Angstzustände und psychische Probleme sind bei Betroffenen und Familienmitgliedern, die Zeug*innen der Gewalt wurden, weit verbreitet. Allerdings, so berichteten Betroffene und Zeug*innen Amnesty International, hätten sie nur begrenzte oder gar keine psychosoziale und medizinische Unterstützung erhalten, seit sie in den Lagern für Binnenvertriebene in der Stadt Shire in Äthiopien bzw. in Flüchtlingslagern im Sudan angekommen seien.
Kein Zugang zu medizinischer Versorgung
Die Überlebenden litten auch darunter, dass medizinische Einrichtungen zerstört wurden und der Personen- und Warenverkehr eingeschränkt waren, was den Zugang zu medizinischer Versorgung behinderte. Die Überlebenden und ihre Familien gaben an, dass es ihnen aufgrund der begrenzten humanitären Hilfe an Nahrungsmitteln, Unterkünften und Kleidung mangelt. „Zusätzlich zu ihrem Leid und Trauma wurden die Betroffenen ohne angemessene Unterstützung zurückgelassen. Sie müssen Zugang zu den Dienstleistungen erhalten, die sie benötigen und auf die sie einen Anspruch haben – einschließlich medizinischer Behandlung, Hilfe zur Sicherung des Lebensunterhalts, psychologischer Betreuung und psychosozialer Unterstützung. Dies sind wesentliche Maßnahmen für eine angemessene Unterstützung der Überlebenden“, forderte Agnès Callamard.
Forderung nach unabhängiger Untersuchung
Alle mutmaßlichen Fälle sexualisierter Gewalt müssen wirksam, unabhängig und unparteiisch untersucht werden, um sicherzustellen, dass die Überlebenden Gerechtigkeit erfahren. Zudem muss ein wirksames Rehabilitations- und Entschädigungsprogramm eingerichtet werden. Alle Konfliktparteien müssen außerdem den ungehinderten Zugang für humanitäre Hilfe sicherstellen.
Hintergrund: Tigray-Konflikt forderte bereits tausende Todesopfer und Hundertausende Vertriebene
Seit Beginn der Konflikte in der Tigray-Region am 4. November 2020 wurden Tausende Zivilpersonen getötet und Hunderttausende Menschen innerhalb von Tigray vertrieben. Zehntausende sind in den Sudan geflohen. Berichte über sexualisierte Gewalt blieben in den ersten beiden Monaten des Konflikts weitgehend vor der Außenwelt verborgen. Dies ist vor allem auf die von der äthiopischen Regierung verhängten Zugangsbeschränkungen und der Kappung von Kommunikationsmöglichkeiten zurückzuführen.
Gesundheitseinrichtungen in Tigray registrierten im Zeitraum von Februar bis April 2021 1.288 Fälle geschlechtsspezifischer Gewalt . Das Krankenhaus von Adigrat verzeichnete 376 Vergewaltigungsfälle ab Ausbruch des Konflikts bis 9. Juni 2021. Viele Überlebende vertrauten Amnesty International jedoch an, dass sie keine Gesundheitseinrichtungen aufgesucht haben, was darauf schließen lässt, dass diese Zahlen nur einen kleinen Teil der Vergewaltigungen im Kontext des Konflikts darstellen.
Für die Erstellung des Berichts sprach Amnesty International zwischen März und Juni 2021 mit 63 Überlebenden von Vergewaltigung und anderer sexualisierter Gewalt; mit 15 davon persönlich im Sudan und mit den anderen über sichere Telefonleitungen. Auch medizinisches Fachpersonal und humanitäre Helfende, die in den Städten Shire und Adigrat sowie in Flüchtlingslagern im Sudan Überlebende behandelten oder unterstützen, wurden von Amnesty International befragt. Sie gaben Auskunft über das Ausmaß der sexualisierten Gewalt und bestätigten Informationen über bestimmte Fälle.