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© EDUARDO SOTERAS / AFP / picturedesk.com

Presse © EDUARDO SOTERAS / AFP / picturedesk.com

Äthiopien: Eritreische Streitkräfte begehen trotz Waffenstillstand Kriegsverbrechen in Tigray

5. September 2023

Trotz Waffenstillstandsabkommen ist die Zivilbevölkerung in Tigray weiter Gräueltaten ausgesetzt. Auch nach der Unterzeichnung des Abkommens haben eritreische Streitkräfte monatelang Zivilpersonen außergerichtlich hingerichtet und Frauen sexuell versklavt, so ein neuer Bericht von Amnesty International.

Unmittelbar vor und nach der Unterzeichnung des Waffenstillstandsabkommens zwischen der äthiopischen Regierung und der Volksbefreiungsfront von Tigray (Tigray People’s Liberation Front – TPLF) im November 2022 haben eritreischen Streitkräfte Kriegsverbrechen und möglicherweise Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen.

Der Bericht "Today or Tomorrow, They Should Be Brought Before Justice – Rape, Sexual Slavery, Extra-Judicial Executions and Pillage by Eritrean Forces in Tigray" dokumentiert, dass eritreische Streitkräfte für Vergewaltigungen, sexuelle Sklaverei, außergerichtliche Hinrichtungen und Plünderungen verantwortlich waren. In den drei Monaten nach Unterzeichnung des Waffenstillstandes wurden Frauen von Angehörigen der eritreischen Streitkräfte vergewaltigt und sexuell versklavt. In Kokob Tsibah wurden zudem 24 Zivilpersonen außergerichtlich hingerichtet.

Trotz der Unterzeichnung des Waffenstillstandsabkommens gingen die Gräueltaten gegen die Zivilbevölkerung in Tigray weiter.

Tigere Chagutah, Regionaldirektor für das östliche und südliche Afrika bei Amnesty International

Eritreische Soldaten setzten Frauen schrecklichen Misshandlungen aus, darunter Vergewaltigung, Gruppenvergewaltigung und sexuelle Versklavung, während zahlreiche Männer außergerichtlich hingerichtet wurden, sagte Tigere Chagutah, Regionaldirektor für das östliche und südliche Afrika bei Amnesty International.

Die in dem Amnesty-Bericht dokumentierten schweren Verstöße stellen Kriegsverbrechen und möglicherweise Verbrechen gegen die Menschlichkeit dar.

Sexualisierte Gewalt und außergerichtliche Hinrichtungen

Amnesty International hat mit elf Frauen aus Kokob Tsibah gesprochen, die Vergewaltigung und sexuelle Sklaverei überlebten. Mehr als 40 Frauen in Kokob Tsibah berichteten einer lokalen zivilgesellschaftlichen Organisation, dass sie in der Zeit nach der Unterzeichnung des Waffenstillstandsabkommens vergewaltigt und sexuell versklavt worden waren. Einige Frauen wurden in einem Militärlager der eritreischen Streitkräfte vergewaltigt, andere in ihren eigenen Häusern oder in von den Streitkräften eingenommenen Häusern. In Verbindung mit weiteren von Amnesty International durchgeführten Recherchen können die in Kokob Tsibah dokumentierten Fälle von Vergewaltigung und sexueller Sklaverei als Teil eines umfassenden bzw. systematischen Angriffs gegen die Zivilbevölkerung betrachtet werden. Sie stellen möglicherweise Verbrechen gegen die Menschlichkeit dar.

Amnesty International hat mit Zeug*innen, Überlebenden und Familienangehörigen gesprochen, die Angaben zu der außergerichtlichen Hinrichtung von mindestens 20 Zivilpersonen, vornehmlich Männern, zwischen dem 25. Oktober und 1. November 2022 durch eritreische Streitkräfte in Mariam Shewito machten. Darüber hinaus trug ein Sozialarbeiter eine Liste mit mehr als 100 Namen von Personen zusammen, die im selben Zeitraum in Mariam Shewito außergerichtlich hingerichtet worden sein sollen. Amnesty International war allerdings nicht in der Lage, aus der Ferne alle diese Fälle unabhängig bestätigen zu lassen.

Angehörige der eritreischen Streitkräfte, die in Mariam Shewito und Kokob Tsibah stationiert waren, töteten bei Hausdurchsuchungen vorsätzlich Zivilpersonen, zumeist Männer. Bei diesen Hausdurchsuchungen suchten die Militärs vorgeblich nach Angehörigen der tigrayischen Streitkräfte und deren Unterstützer*innen. Amnesty International führte Gespräche mit vielen verschiedenen Personen, die alle nahelegten, dass es sich bei den Opfern der außergerichtlichen Hinrichtungen um Zivilpersonen handelte. Diese Tötungen wurden im Rahmen eines internen bewaffneten Konflikts begangen und stellen somit das Kriegsverbrechen des Mordes dar.

Die meisten der 49 Überlebenden, Zeug*innen und Familienangehörigen der Opfer, mit denen Amnesty International gesprochen hat, gaben an, dass eritreische Streitkräfte auch ihr Eigentum geplündert und ihr Vieh gestohlen haben. Viele Menschen müssen sich nun von ihren Familienmitgliedern Unterkunft und Nahrung erbitten, während manche betteln gehen, um zu überleben.

Verstöße müssen wirksam untersucht werden

Seit dem Ausbruch des bewaffneten Konflikts in der Region Tigray im November 2020 hat Amnesty International völkerrechtliche Verbrechen und andere Menschenrechtsverletzungen und -verstöße durch alle Konfliktparteien dokumentiert, auch durch die eritreischen Streitkräfte.

Eritrea und Äthiopien sind verpflichtet, Verbrechen unter dem Völkerrecht wirksam zu untersuchen und bei ausreichender Beweislage strafrechtlich zu verfolgen. Dies gilt auch für mutmaßliche Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Dies muss im Einklang mit den internationalen Standards für faire Verfahren und ohne Anwendung der Todesstrafe geschehen.

Amnesty International appelliert an den Menschenrechtsrat der Uno, auf der 54. Sitzung am 11. September 2023 das Mandat der Internationalen Expert*innenkommission für Menschenrechte in Äthiopien (ICHREE) zu erneuern.

Darüber hinaus fordert Amnesty International die Afrikanische Kommission für Menschenrechte und Rechte der Völker auf, die Entscheidung wieder rückgängig zu machen, das Mandat der im Mai 2021 eingesetzten Untersuchungskommission zur Lage in der Region Tigray zu beenden. Der Untersuchungskommission wurde im Juni 2023 das Mandat entzogen, noch bevor sie einen Abschlussbericht vorgelegt hatte.

Angesichts der anhaltenden schweren Menschenrechtsverletzungen und -Verstöße sowie der geringen Aussichten auf Rechenschaftslegung im Land fordert Amnesty International, das Mandat der ICHREE zu verlängern und vorbehaltslos zu unterstützen. Die Afrikanische Kommission sollte zudem das Mandat ihrer Untersuchungskommission wiederherstellen und dafür sorgen, dass die Kommission einen Bericht mit Ergebnissen und Empfehlungen vorlegen kann.

Tigere Chagutah, Regionaldirektor für das östliche und südliche Afrika bei Amnesty International

Methodik

Amnesty International führte zwischen dem 17. Mai und dem 10. Juni 2023 49 telefonische Interviews in den Bezirken Mariam Shewito und Kokob Tsibah durch. Die Aussagen von Überlebenden und Zeug*innen wurden mit Satellitenbildern und weiteren Informationen von Sozialarbeiter*innen, medizinischen Expert*innen, die Opfer und Überlebende behandelt haben, lokalen Regierungsbeamt*innen und Organisationen der Zivilgesellschaft untermauert.

Kokob Tsibah liegt im Bezirk Genta Afeshum Woreda in der östlichen Zone von Tigray, nahe der äthiopisch-eritreischen Grenze. Die Übergriffe in Kokob Tsibah begannen einen Tag vor der Unterzeichnung des Waffenstillstandsabkommens. Die von den eritreischen Streitkräften gegen Frauen verübten sexualisierten Gewalttaten dauerten fast drei Monate lang bis zum 19. Januar 2023 an.

Mariam Shewito ist ein Bezirk in der Zentralzone von Tigray, in der Nähe der historischen Stadt Adwa. Die in Mariam Shewito dokumentierten Übergriffe fanden zwischen dem 25. Oktober 2022 und dem 1. November 2022 statt, als die Verhandlungen zwischen der äthiopischen Regierung und der TPLF noch im Gange waren.

Amnesty International teilte der äthiopischen und der eritreischen Regierung am 17. August 2023 vorläufige Forschungsergebnisse mit. Zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Berichts hatte die Organisation noch keine Antwort erhalten.