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Ägypten: „Wie lebendig begraben“

7. Mai 2018

Neuer Amnesty-Bericht dokumentiert schreckliche Zustände in Gefängnissen

Dutzende Menschenrechtsaktivist*innen, Journalist*innen und Oppositionelle befinden sich in Ägypten unter katastrophalen Bedingungen in verlängerter bzw. unbefristeter Isolationshaft: Sie sind wochenlang 24 Stunden täglich eingesperrt, sie haben keinen Kontakt zu anderen Menschen und ihre Zellen sind in einem furchtbaren Zustand.

Download des Berichts "Crushing Humanity: The abuse of solitary confinement in Egypt’s prisons"

"Im Völkerrecht ist geregelt, dass Isolationshaft nur dann eingesetzt werden darf, wenn keine andere Disziplinarmaßnahme mehr zur Verfügung steht", sagt Najia Bounaim, Kampagnendirektorin bei Amnesty International für die Region Nordafrika.

Die ägyptischen Behörden setzen Isolationshaft als entsetzliche ,Extrastrafe‘ für politische Gefangene ein – grausam und willkürlich. Das Ziel ist, ihre Hoffnung auf eine bessere Zukunft zu zerstören.

Najia Bounaim

Recherchen von Amnesty International in 14 ägyptischen Gefängnissen belegen die schrecklichen Bedingungen für die Gefangenen: Sie werden von den Gefängniswärter*innen misshandelt, etwa durch Schläge oder durch das wiederholte Eintauchen ihres Kopfes in einen Eimer mit Exkrementen. Ihnen wird absichtlich seelisches und körperliches Leid zugeführt – und das führt bei den Betroffenen zu Panikattacken, Paranoia, Überempfindlichkeit bei Außenreizen sowie Konzentrations- und Gedächtnisstörungen.

„Die Haftbedingungen in Ägypten sind schon immer schlecht gewesen. Doch die bewusste Grausamkeit dieser Behandlung zeigt, wie sehr die ägyptischen Behörden die Menschenrechte und die Menschenwürde verachten“, sagt Bounaim.

Isolationshaft systematisch missbraucht

Amnesty International hat 36 Fälle von Gefangenen in verlängerter bzw. unbefristeter Isolationshaft dokumentiert. Sechs davon sind seit 2013 von der Außenwelt abgeschnitten.

Alle dokumentierten Fälle folgen einem Muster: Mehr als 22 Stunden Isolationshaft und nur 30 Minuten bis zu einer Stunde Bewegung pro Tag. Kontakt mit anderen Gefangenen ist untersagt und den Gefangenen werden regelmäßige Familienbesuche verweigert – ein Gefangener durfte seit Oktober 2016 keinen einzigen Besuch empfangen.

Den Gefangenen wird auch nicht mitgeteilt, wann ihre Isolationshaft endet. Dadurch wird ihnen die Hoffnung auf ein Ende der Isolationshaft genommen.

Isolationshaft aus politischen Gründen

In manchen Fällen wird Isolationshaft eingesetzt, um Geständnisse von Gefangenen zu erzwingen, die aufgrund konstruierter Anklagen in Haft sind. In den meisten Fällen hat Amnesty International jedoch festgestellt, dass Gefangene nur aufgrund ihres früheren politischen Aktivismus unbegrenzt in Isolationshaft gehalten werden.

Betroffen sind unter anderem Mitglieder einer Reihe von Oppositionsparteien und -bewegungen, wie die Muslimbruderschaft und die Jugendbewegung „6. April“.

Schläge, kein Kontakt zur Außenwelt

Ehemalige Gefangene, die Amnesty International interviewt hat, gaben an, dass sie von Gefängnismitarbeiter*innen erst über lange Zeiträume geschlagen und dann auf engem Raum wochenlang allein festgehalten wurden.

Sechs Gefangene werden seit mehr als vier Jahren in Isolationshaft gehalten. Sie erhalten zudem nicht genug Nahrung und Wasser und müssen unangemessene Sanitäranlagen und Schlafgelegenheiten ertragen.

Panikattacken, Depressionen

Ehemalige Gefangene, die lange Zeit in Isolationshaft waren, berichteten Amnesty International, dass diese Erfahrung dauerhafte Auswirkungen auf ihre Psyche hatte. Wenn sie wieder in den Normalvollzug kamen, litten sie an Depressionen, Schlaflosigkeit und einem Widerwillen, sich mit anderen Menschen zu umgeben und mit ihnen zu sprechen.

Manr el-Tantawie, die Frau von Hisham Gaafar, der im Al-Aqrab-Gefängnis in Isolationshaft sitzt, erzählte Amnesty International: "Zum ersten Mal habe ich Hisham Gaafar im Krankenhaus wiedergesehen. Er beschrieb mir seine Einzelzelle. Er konnte im Dunkeln der Zelle nichts sehen. Ihm fiel das Atmen schwer, da es weder ein Fenster noch irgendeine andere Frischluftquelle gab." 

Er sagte, er habe sich wie lebendig begraben gefühlt. Als ihn die Gefängniswärter schließlich aus dieser Zelle holten, war es wie eine Wiedergeburt. Doch nach wenigen Monaten im Gefängniskrankenhaus kam er wieder in Isolationshaft.

Manr el-Tantawie

„In Ägypten wird die Isolationshaft rechtswidrig als Mittel eingesetzt, um Andersdenkende auf Linie zu bringen oder angebliches Fehlverhalten von Gefangenen, die ohnehin unter vagen Anschuldigungen inhaftiert wurden, zu beenden“, sagt Bounaim.

„Die Verfolgung richtet sich nicht nur gegen ägyptische Menschenrechtsverteidiger*innen, Journalist*innen und Angehörige der Opposition, die friedlich ihre Ansichten in der Öffentlichkeit vertreten, sondern wird auch in den Gefängnissen fortgesetzt“, sagt Bounaim.
Aufgrund der Schwere der Erkenntnisse reichte Amnesty International am 16. April ein Memorandum mit einer Zusammenfassung der Recherche bei den ägyptischen Behörden ein. Eine Reaktion darauf gab es bislang nicht.

Über den Bericht

Isolationshaft ist in allen ägyptischen Gefängnissen die Regel. Amnesty International hat sich bei diesem Bericht auf Gefangene konzentriert, die aus politischen Gründen inhaftiert wurden. Denn die Recherchen zeigten, dass diese Gefangenen eher Gefahr liefen, in verlängerte oder zeitlich unbefristete Isolationshaft genommen zu werden.

Amnesty International hat 91 Interviews mit neun ehemaligen Gefangenen und mit den Familienangehörigen von 27 aktuell Inhaftierten geführt. Die Interviews wurden zwischen März 2017 und April 2018 geführt.

14 Gefängnisse in sieben ägyptischen Gouvernements wurden in diesem Bericht untersucht, dazu gehörten das Liman-Tora-Gefängnis, das Tora-Ermittlungsgefängnis und das Tora-Hochsicherheitsgefängnis Nr. 1 (besser bekannt unter dem Namen Al-Aqrab oder Skorpiongefängnis). 20 der 36 in diesem Bericht genannten Gefangenen wurden in verlängerter Isolationshaft im Tora-Gefängniskomplex festgehalten.

Diese Gefängnisse befinden sich in Gouvernements, in denen die Sicherheitskräfte Tausende Personen aus politischen Gründen festgenommen und inhaftiert haben.

Hintergrund

Seit der Ablösung von Präsident Mohammed Mursi am 3. Juli 2013 durch Präsident Abdelfattah al-Sisi, der inzwischen die zweite Amtszeit begonnen hat, haben die ägyptischen Behörden Zehntausende Personen aufgrund politisch motivierter Anklagen eingesperrt.

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UPDATE: Reaktion der ägyptischen Behörden auf Amnesty-Bericht

Die ägyptischen Behörden haben auf den Amnesty-Bericht reagiert – sie leugnen die weitverbreitete Verwendung von verlängerter Einzelhaft. Ihre Antwort bestätigt, dass das richterliche Aufsichtssystem und die Menschenrechtsbeobachtung in ägyptischen Gefängnissen inadäquat und ineffektiv sind.

Amnesty International schrieb den ägyptischen Behörden am 16. und 17. April 2018 und übermittelte ihnen eine Zusammenfassung des Berichts über den missbräuchlichen Einsatz von Isolationshaft bei Gefangenen, die aus politischen Gründen inhaftiert sind. Amnesty forderte eine Stellungnahme und eine Klarstellung von den Behörden. Die 14-Seiten lange Antwort von den Behörden wurde am 3. Mai 2018 übermittelt.

Die ägyptischen Behörden bestreiten, dass der Einsatz von längerer Einzelhaft weit verbreitet ist, und behaupten, dass es einen Unterschied zwischen einer Einzelzelle und dem Halten von Gefangenen in „individuellen Zellen“ gibt. Allerdings ist die Gefangenschaft von über 22 Stunden pro Tag in einer Einzelzelle für mehr als 15 Tage – und nicht die Art der Zelle – ausschlaggebenden für illegale Isolationshaft.

„Wir begrüßen die Gelegenheit, mit den ägyptischen Behörden in Kontakt zu treten. Gleichzeitig sind wir enttäuscht davon, dass sie ihren menschenrechtlichen Verpflichtungen nicht nachgehen. Gefangene monate- und jahrelang in Einzelzellen für 23 oder 24 Stunden täglich einzusperren ist grausam, unmenschlich und eine erniedrigende Behandlung“, sagt Najia Bounaim, Kampagnendirektorin bei Amnesty International für die Region Nordafrika.

„Die Menschenrechte in Ägypten befinden sich in einer Krise. Die ägyptischen Gefängnisse stehen beispielhaft dafür – sie sind Orte, wo grausame und unmenschliche Behandlungen besonders gravierend vorkommen.“