10 Jahre russische Aggression in der Ukraine: Russland muss zur Rechenschaft gezogen werden
22. Februar 2024Anlässlich des zweiten Jahrestages der russischen Invasion in der Ukraine und zehn Jahre nach der russischen Annexion der Krim fordert Amnesty International Rechenschaft für völkerrechtliche Verbrechen. Angesichts der zahlreichen Beweise für Gräueltaten, darunter gezielte Angriffe auf Zivilist*innen, gewaltsames Verschwindenlassen und außergerichtliche Hinrichtungen, muss die internationale Gemeinschaft Konsequenzen ziehen.
Es kann keine Gerechtigkeit für die ukrainische Bevölkerung geben, wenn nicht alle Verbrechen, die Russland seit seiner „militärischen Intervention” im Jahr 2014 begangen hat, vollständig zur Rechenschaft gezogen werden.
Seit der Besetzung der ukrainischen Krim im Jahr 2014 hat Amnesty International zahlreiche völkerrechtliche Verbrechen dokumentiert, darunter gezielte Angriffe auf Zivilist*innen und kritische zivile Infrastrukturen, gewaltsames Verschwinden von Personen, außergerichtliche Hinrichtungen, Folter, willkürliche Inhaftierung, gewaltsame Vertreibung und die Misshandlung von Kriegsgefangenen.
„Noch während der Krieg wütet, müssen die Beweise für jede einzelne Gräueltat so gut wie möglich gesichert werden. Diejenigen, die für Völkerrechtserbrechen verantwortlich sind, müssen vor Gericht kommen, egal wie lange es dauert. Solche Straftaten verjähren nicht", sagt Shoura Hashemi, Geschäftsführerin von Amnesty International Österreich.
Auch Österreich hat eine Verantwortung, sich aktiv an der Aufarbeitung und Verfolgung von Kriegsverbrechen zu beteiligen. Wir fordern die österreichische Regierung auf, enge Kooperationen mit anderen Staaten einzugehen, um sicherzustellen, dass keine Straftat ungesühnt bleibt und Verantwortliche zur Rechenschaft gezogen werden.
Shoura Hashemi, Geschäftsführerin von Amnesty International Österreich
„Eine verstärkte finanzielle Unterstützung internationaler Justizmechanismen und eine konsequentere Umsetzung des Weltrechtsprinzips sind entscheidende Schritte, um die weltweiten Bemühungen um Gerechtigkeit und Rechenschaftspflicht zu intensivieren," so Shoura Hashemi.
Zehn Jahre bewaffneter Konflikt
Im Februar 2014 entsandte Russland seine Truppen auf die ukrainische Krim-Halbinsel, leugnete jedoch, dass die russischen Streitkräfte im selben Jahr auch in die Ostukraine eindrangen. Die von Amnesty International veröffentlichten Beweise aus dem Jahr 2014, einschließlich der Untersuchung von Satellitenbildern und Augenzeugenberichten, bestätigten jedoch den Einmarsch und belegen damit den seit zehn Jahren andauernden internationalen bewaffneten Konflikt.
In der gesamten Ukraine leiden die Menschen unter den Folgen des Krieges und der begangenen Menschenrechtsverletzungen. Dies gilt insbesondere für die Menschen in den Regionen Donezk und Luhansk. Zwischen 2014 und 2021 wurden mehr als 10.000 ukrainische Zivilpersonen getötet oder verletzt, wobei im ersten Jahr der Kämpfe zahlreiche Verstöße gegen das Kriegsrecht gemeldet wurden. Hunderttausende wurden aus der Ostukraine vertrieben, nachdem von Russland unterstützte bewaffnete Gruppen in Donezk und Luhansk „Volksrepubliken“ ausgerufen hatten. Viele Menschen sind jedoch geblieben.
„In Donezk hatte ich ein Dach über dem Kopf, einen Job, der mich ernährte, und meine Eltern, die mich und das Baby unterstützten. Es war sehr schwer mit anzusehen, was mit meiner Heimat geschah ... Aber 2022, als der Druck, sich einen russischen Pass ausstellen zu lassen, und die Einmischung in die Schule zu groß wurden, beschloss ich, dass es Zeit war zu gehen“, sagte Olha* aus Donezk.
Von dem Moment an, als die von Russland unterstützten bewaffneten Gruppen die Kontrolle über Donezk und Luhansk übernahmen, waren in den Regionen Verschleppungen, Folter und in vielen Fällen die Tötung von Zivilpersonen an der Tagesordnung. Einwohner*innen von Slowjansk berichteten Amnesty International, dass 2014 eine bewaffnete Gruppe einen örtlichen Pastor, zwei seiner Söhne und zwei Kirchenbesucher*innen entführt und 50.000 US-Dollar Lösegeld gefordert hatten. Bis die Gemeinde das Geld gesammelt hatte, waren die fünf Gefangenen bereits getötet worden.
Solche Gräueltaten wurden von der brutalen Unterdrückung abweichender Meinungen begleitet, die sich gegen Medienschaffende, Wissenschaftler*innen, Menschenrechtsverteidiger*innen und andere Aktivist*innen richtete.
Ausweitung der Menschenrechtskatastrophe
Mit dem Einmarsch Russlands vor zwei Jahren - einem Akt der Aggression, der nach dem Völkerrecht ein Verbrechen darstellt - weitete sich die tragisch bekannte Menschenrechtskatastrophe auf das ganze Land aus.
„Diejenigen, die 2014 überlebt haben, sagten uns: ‚Das ist Krieg, ihr müsst evakuieren.‘ Jetzt weiß ich, dass sie Recht hatten. Und erst jetzt weiß ich, wie sich das anfühlt: die Heimat zu verlassen und ein neues Leben zu beginnen. Und sie mussten das zweimal erleben“, sagte Nataliia* aus Chernihiv in der Nordukraine.
Die von Russland in der Region Kiew begangenen Kriegsverbrechen in den ersten Tagen der groß angelegten Invasion, zeigen eindeutig ein Muster von Folter und rechtswidrigen Tötungen von Zivilpersonen, bei denen es sich zumeist um außergerichtliche Hinrichtungen zu handeln scheint.
„Ich sah Oleh in einer Blutlache auf dem Boden liegen. [...] Ein Teil seines Kopfes fehlte und er blutete stark. Ich schrie und die Soldaten richteten ihre Gewehre auf mich. Daraufhin rief ich ihnen zu: ‚Erschießt mich auch‘. Die Soldaten zwangen uns, sofort zu gehen. Wir durften erst zurückkommen, nachdem sie sich aus Bucha zurückgezogen hatten. Olehs Leiche blieb dort auf der Straße liegen“, erinnert sich Iryna* an die Tötung ihres Mannes durch russische Soldaten im März 2022.
„Wir müssen sicherstellen, dass die Personen, die für völkerrechtliche Verbrechen verantwortlich sind, in fairen Verfahren vor Gericht gestellt werden. Es ist von größter Wichtigkeit, dass die ukrainische Bevölkerung Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung für die verheerenden Auswirkungen erhält, die dieser Krieg in den letzten zehn Jahren auf die Menschen, das Land, die Infrastruktur und die Wirtschaft hatte und immer noch hat“, sagte Shoura Hashemi.
*Namen zum Schutz der Identität geändert