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Ukraine: Russische Schauprozesse gegen Kriegsgefangene in Mariupol wären rechtswidrig und inakzeptabel

29. August 2022

Zusammenfassung

  • Bilder in den Sozialen Medien aufgetaucht, die den Bau von Käfigen in der Philharmonie von Mariupol zeigen, die offenbar für Schauprozesse gegen Kriegsgefangene gedacht sind
  • Kriegsgefangene vorsätzlich ihres Rechts auf ein faires Verfahren zu berauben, stellt Kriegsverbrechen dar
  • Kriegsgefangene könnten in Foltergefahr sein, um „Geständnisse“ zu erzwingen

Wenn von Russland unterstützte bewaffnete Gruppen, ukrainische Kriegsgefangene in Mariupol vor ein sogenanntes „internationales Tribunal“ stellen wollen, ist dies rechtswidrig und stellt einen weiteren Akt der Grausamkeit gegen eine Stadt dar, die bereits so massiv unter Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine gelitten hat, erklärt Amnesty International angesichts derartiger Meldungen.

Die Besorgnis hat zugenommen nachdem in den vergangenen Tagen verschiedene Berichte und Bilder in den Sozialen Medien aufgetaucht sind, die zeigen, dass in der Philharmonie von Mariupol Käfige gebaut werden, die offenbar für Gefangene gedacht sind, die vor Gericht gestellt werden sollen. Das Crisis Evidence Lab von Amnesty International hat bestätigt, dass Bilder, die vom Rat der Stadt Mariupol auf Facebook gepostet wurden, aus dem Inneren der Philharmonie von Mariupol stammen.

Das Völkerrecht verbietet es einem Gewahrsamsstaat, Kriegsgefangene wegen der Teilnahme an Feindseligkeiten oder wegen rechtmäßiger Kriegshandlungen, die im Verlauf eines bewaffneten Konflikts begangen wurden, strafrechtlich zu verfolgen. Gemäß des Dritten Genfer Abkommens haben Kriegsgefangene, die eines Verbrechens angeklagt werden, das Recht auf verfahrensrechtliche Garantien und ein faires Verfahren, das nur vor einem Gericht der zivilen Gerichtsbarkeit erfolgen darf.

„Alle Versuche russischer Behörden, ukrainische Kriegsgefangene vor sogenannte ‚internationale Tribunale‘ zu stellen, die von bewaffneten Gruppen unter der effektiven Kontrolle Russlands in Mariupol eingerichtet wurden, sind rechtswidrig und inakzeptabel“, sagt Marie Struthers, Direktorin für Osteuropa and Zentralasien von Amnesty International, und sagt weiter:

„Das humanitäre Völkerrecht verbietet die Einrichtung von Gerichten ausschließlich für Kriegsgefangene. Kriegsgefangene vorsätzlich ihres Rechts auf ein faires Verfahren zu berauben – und genau das hat Russland vor –, stellt ein Kriegsverbrechen dar. In den Genfer Abkommen ist auch klar festgelegt, dass Kriegsgefangene nicht strafverfolgt werden dürfen, weil sie an Kriegshandlungen teilgenommen haben."

Mit der Inszenierung derartiger Schauprozesse macht Russland als Besatzungsmacht das juristische Verfahren zu einer Farce und verwandelt die Gerichte in Propagandainstrumente.

Marie Struthers, Direktorin für Osteuropa and Zentralasien von Amnesty International

„Diese ‚Tribunale‘ in Mariupol stattfinden zu lassen, ist besonders grausam, wenn man bedenkt, dass Russland die Stadt vor ihrer Einnahme im Mai unerbittlich angegriffen, belagert und sie in ein Trümmerfeld verwandelt hat. Amnesty International hat einen russischen Luftangriff auf das Akademische Dramatheater der Region Donezk in Mariupol untersucht und ist zu dem Schluss gekommen, dass russische Streitkräfte gezielt Zivilpersonen angegriffen haben. Dies stellt eindeutig ein Kriegsverbrechen dar,” sagt Marie Struthers weiters.

Rechte ukrainischer Kriegsgefangener

Die russischen Streitkräfte und die von Russland unterstützten bewaffneten Gruppen müssen unabhängigen Beobachter*innen uneingeschränkten Zugang zu ukrainischen Kriegsgefangenen gewähren. Amnesty International teilt die Befürchtungen des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte, dass ukrainische Kriegsgefangene ohne Zugang zu unabhängigen Beobachter*innen festgehalten werden, „wodurch sie der Gefahr ausgesetzt sind, gefoltert zu werden, um ein Geständnis zu erzwingen“.

Amnesty International teilt auch die Sorge des UN-Hochkommissariats, dass öffentliche Äußerungen von offizieller russischer Seite, in denen ukrainische Kriegsgefangene als ‚Kriegsverbrecher‘ bezeichnet werden, unmittelbar die Unschuldsvermutung untergraben, die eine grundlegende Garantie für ein faires Verfahren darstellt.

In den vergangenen Jahren hat Amnesty International in Russland wiederholt Verstöße gegen das Recht auf ein faires Verfahren dokumentiert. Dazu gehören die weite Verbreitung von Folter, das Fälschen von Beweismaterial sowie Fälle politisch motivierter Strafverfolgung. Noch mehr Anlass zur Sorge geben ‚Gerichtsverfahren‘ durch bewaffnete Gruppen in russisch besetzten Gebieten.

Amnesty International hat bereits zuvor zahlreiche Menschenrechtsverletzungen durch diese Gruppen dokumentiert, seit diese unter russischer Führung die Kontrolle über Teile der Ostukraine übernommen haben. Zu den Menschenrechtsverletzungen zählen Entführungen, Tötungen, rechtswidrige Freiheitsberaubung, Folter und andere Misshandlungen sowie die Unterdrückung Andersdenkender.

Amnesty International fordert auch eine sofortige internationale Untersuchung anderer mutmaßlicher Kriegsverbrechen, darunter auch die Explosion im Dorf Olenivka am 29. Juli, bei der mehr als 50 ukrainische Kriegsgefangene getötet wurden. Sie befanden sich im Gewahrsam der Streitkräfte der sogenannten ‚Volksrepublik Donezk‘ in der Ostukraine. Die russischen Behörden müssen internationalen Ermittler*innen unbedingt gestatten, den Ort zu besuchen, um eine umfassende Untersuchung einzuleiten.

Videostill, das den Bau von Käfigen auf der Bühne der Philharmonie in Mariupol zeigt, Ukraine, August 2022. (c) privat

Das dritte Genfer Abkommen

Die Artikel 82 bis 108 des Dritten Genfer Abkommens schützen Kriegsgefangene vor Strafverfahren. Gemäß Artikel 84 dürfen sie nur von Gerichten verurteilt werden, die die „allgemein anerkannten wesentlichen Garantien der Unabhängigkeit und der Unparteilichkeit“ bieten.

Darüber hinaus heißt es in Artikel 13: „Die Kriegsgefangenen sind jederzeit mit Menschlichkeit zu behandeln. Jede unerlaubte Handlung oder Unterlassung seitens des Gewahrsamsstaates, die den Tod oder eine schwere Gefährdung der Gesundheit eines in ihrem Gewahrsam befindlichen Kriegsgefangenen zur Folge hat, ist verboten und als schwere Verletzung des vorliegenden Abkommens zu betrachten. Die Kriegsgefangenen müssen ferner jederzeit geschützt werden, namentlich auch vor Gewalttätigkeit oder Einschüchterung, Beleidigungen und der öffentlichen Neugier.“

Rechenschaftspflicht für Kriegsverbrechen

Amnesty International hat seit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine Kriegsverbrechen und Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht durch die russischen Streitkräfte dokumentiert. Alle bisherigen Berichte und Statements von Amnesty International zum russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine sind hier zu finden. 

Amnesty International hat wiederholt gefordert, die für die Menschenrechtsverletzungen verantwortlichen russischen Streitkräfte zur Rechenschaft zu ziehen, und hat die laufenden Ermittlungen des Internationalen Strafgerichtshofs in der Ukraine begrüßt. Eine umfassende Umsetzung der Rechenschaftspflicht in der Ukraine erfordert konzertierte Bemühungen seitens der Vereinten Nationen und ihrer Organe sowie Initiativen auf nationaler Ebene nach dem Weltrechtsprinzip.

Russischer Einmarsch in die Ukraine

Amnesty International beobachtet die Lage der Zivilbevölkerung in der Ukraine genau und wird weiterhin Menschenrechtsverletzungen und Verstöße gegen das Völkerrecht aufdecken und dokumentieren. Hier findest du alle aktuellen Informationen und Updates zu unseren Untersuchungen zum Krieg in der Ukraine.

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