USA: Amnesty-Analyse dokumentiert mehr als 100 Fälle von rechtswidriger Polizeigewalt bei #Blacklivesmatter Protesten
23. Juni 2020Zusammenfassung
- Seit dem 26. Mai erfasst Amnesty International in den USA auf einer Karte landesweit Fälle von Polizeigewalt
- Bislang wurden fast 500 Fotos und Videos entsprechender Vorfälle analysiert
- Bei 125 Vorfällen in 40 Bundesstaaten ist Polizeigewalt gegen friedliche Demonstrierende, Journalist*innen und Unbeteiligte belegbar
In den USA haben Polizist*innen landesweit in großem Umfang schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen gegen Personen begangen, die gegen die Morde an Schwarzen protestierten und eine Reformierung des Polizeiapparats fordern. Das zeigt eine Analyse des Crisis Evidence Lab von Amnesty International, die mehr als 100 Fälle von Polizeigewalt dokumentiert. Die interaktive Karte zeigt belegbare Fälle von Polizeigewalt in 40 Bundesstaaten. Amnesty fordert systemische Veränderungen in der Polizeiarbeit.
Black-Lives-Matter-Bewegung demonstrierte gegen Polizeigewalt und traf auf noch mehr Polizeigewalt
Amnesty International hat zwischen dem 26. Mai und dem 5. Juni 2020 – der Zeit, in der Hunderttausende in den USA und anderen Ländern unter dem Motto „Black Lives Matter“ gegen Rassismus und Polizeigewalt demonstrierten – insgesamt 125 Fälle von Polizeiübergriffen gegen Demonstrant*innen dokumentiert. Die Analyse zeigt, dass Sicherheitskräfte in 40 Bundesstaaten und Washington, DC täglich gegen Menschenrechte verstießen, anstatt ihren Verpflichtungen nachzukommen und das Recht auf friedlichen Protest zu respektieren und sicherzustellen.
Die rechtswidrige Gewaltanwendung seitens der Polizei umfasste Schläge, die missbräuchliche Anwendung von Tränengas und Pfefferspray sowie den unangemessenen Einsatz nichttödlicher Waffen zum Abfeuern von Hartschaum- und Gummigeschossen. An diesen Verstößen waren Angehörige nationaler und lokaler Polizeieinheiten, der Bundesbehörden und der Nationalgarde beteiligt.
„Die Analyse ist eindeutig: Als Aktivist*innen und Unterstützer*innen der Black-Lives-Matter-Bewegung in den USA auf die Straße gingen, um friedlich gegen systemischen Rassismus und Polizeiübergriffe zu demonstrieren, trafen sie in vielen Fällen auf militarisierte Sicherheitskräfte und noch mehr Polizeigewalt“, sagte Brian Castner, Amnesty-Experte für Waffen und Militäreinsätze.
Unterschreibe die weltweite Petition für George Floyd
Fordere die Verantwortlichen in den USA auf, alle, die für den Tod von George Floyd und von vielen weiteren Menschen verantwortlich sind, zur Rechenschaft zu ziehen.
Es wurden lange genug nur kurzfristige Lösungen angeboten und Entschuldigungen für ‚ein paar schwarze Schafe‘ vorgeschoben. Was wir jetzt brauchen, ist eine systemische und umfassende Reform der US-Polizei.
Brian Castner, Amnesty-Experte für Waffen und Militäreinsätze
„Was wir jetzt brauchen, ist eine systemische und umfassende Reform der US-Polizei, um die exzessive Gewaltanwendung und die außergerichtlichen Hinrichtungen von Schwarzen durch Sicherheitskräfte ein für allemal zu beenden. Niemand sollte Angst haben müssen, von eben jenen Polizeibeam*innen verletzt oder getötet zu werden, die einen Eid zum Schutz der Zivilbevölkerung geschworen haben. Für exzessive Gewaltanwendung und Tötungen verantwortliche Polizist*innen müssen ohne Ausnahme zur Rechenschaft gezogen werden.“
Interaktive Karte zeigt 125 fÄLLE VON pOLIZEIGEWALT
Amnesty Crisis Evidence Lab prüfte Informationen aus frei verfügbaren Quellen
Um die Vorfälle während der Black-Lives-Matter-Demonstrationen bewerten zu können, trug das Crisis Evidence Lab von Amnesty International fast 500 Videos und Fotos der Proteste aus den sozialen Netzwerken zusammen.
Diese Inhalte wurden dann von Fachleuten mit entsprechender Expertise in den Bereichen Waffen, Polizeitaktik sowie internationales und US-amerikanisches Recht in puncto polizeilicher Gewaltanwendung überprüft, örtlich zugeordnet und analysiert. In einigen Fällen konnten auch Opfer befragt und das Verhalten von Polizeikräften durch Erkundigung bei den örtlichen Polizeibehörden verifiziert werden.
Verstörende Berichte von Augenzeug*innen über Polizeigewalt
Die interaktive Karte von Amnesty International belegt ein verstörendes Ausmaß an Verstößen durch Polizeikräfte: Achtzig Prozent der US-Bundesstaaten sind betroffen.
Am 30. Mai kam es zu einem Vorfall, bei dem Angehörige der Polizei von Minneapolis und der Nationalgarde von Minnesota rechtswidrig 37/40-mm-Gummigeschosse auf Menschen abfeuerten, die friedlich auf den Veranden ihrer Häuser standen. Nachdem die Sicherheitskräfte bemerkt hatten, dass sie von den Personen auf den Veranden gefilmt wurden, forderten sie sie auf, in die Häuser zu gehen. Anschließend riefen sie „Schießt auf sie!“ und eröffneten das Feuer.
Bei einem anderen Vorfall am 1. Juni verübten Sicherheitskräfte verschiedener Bundesbehörden (National Park Police, Bureau of Prisons und DC National Guard) auf dem Lafayette Square in Washington, DC eine Reihe von Menschenrechtsverletzungen gegen dort demonstrierende Personen. Sie stießen Protestierende und Medienschaffende mit Schutzschilden zur Seite, brachten missbräuchlich unterschiedliche Reizstoffe zum Einsatz und warfen Stinger Ball-Granaten, die Pfefferspray sowie Blitz-Knall-Sätze enthalten und
nicht zielgenau Gummipellets abschießen. Der Angriff stand im Zusammenhang mit
einem Fototermin von Präsident Trump vor einer nahe gelegenen Kirche und war
ein großes Thema in den Medien. Die Washington Post berichtete mit einer ausführlichen
Video-Zeitleiste, für die Amnesty International Hintergrundinformationen zu Bewaffnung und Taktik der Polizei beisteuerte.
Ebenfalls am 1. Juni setzten Angehörige der Polizei des US-Bundesstaates Pennsylvania und der kommunalen Polizeibehörden in der Innenstadt von Philadelphia große Mengen Tränengas und Pfefferspray ein, um Dutzende friedlicher Demonstrant*innen vom Vine Street Expressway zu vertreiben. Eine der Protestierenden ist die angehende Rabbinerin Lizzie Horne, die Amnesty International gegenüber Folgendes sagte:
Wie aus dem Nichts sprühten die auf einmal Pfefferspray in die Menge. Auch auf dem Mittelstreifen stand ein Beamter und versprühte Pfefferspray. Dann setzten sie Tränengas ein.
Lizzie Horne, Angehende Rabbinerin und Demonstrantin in Philadelphia
"Vorn wurde jemand von einer Tränengasgranate am Kopf getroffen und rannte nach hinten. Wir versuchten, ihm zu helfen und spülten seine Augen aus, aber dann wurde er ohnmächtig und bekam einen Anfall. Kurz darauf kam er wieder zu sich. Als wir ihm endlich aufhelfen und ihn beiseite tragen konnten, warf die Polizei noch mehr Tränengas in die Menge. Das machte den Leuten dann richtig Angst. Die Polizei kesselte uns ein und machte mit dem Tränengas weiter. Wir befanden uns an einer steilen Böschung, mit dem Rücken zu einem Zaun, über den einige dann kletterten. Der Zaun war ungefähr ein Meter achtzig hoch. Die Demonstrant*innen hoben die Hände hoch, aber die Polizei lenkte nicht ein. Es kam eine Tränengasgranate nach der anderen geflogen. Wir waren eingehüllt von Tränengas. Uns allen liefen die Tränen wie verrückt und wir husteten ohne Unterlass.
Dann kamen weitere Polizisten von der anderen Seite des Zauns und deckten uns auch von dort aus mit Tränengas ein. Kurz darauf stürmte die Polizei die Böschung hinauf und ... schlug auf die Menschen ein und stieß sie beiseite. Sie schleiften die Leute die Böschung hinunter, fesselten ihnen die Hände mit Kabelbindern und zwangen sie, sich in einer Linie auf dem Mittelstreifen des Highways auf den Boden zu knien. Dann zogen sie sich ihre Masken über die Gesichter und deckten die Demonstrant*innen wieder mit Pfefferspray und Tränengas ein.“
Die Verstöße waren nicht auf die größeren Städte beschränkt. Auch die kommunalen Polizeibehörden kleinerer Orte setzten in exzessiver Weise Tränengas gegen friedliche Demonstrant*innen ein, zum Beispiel in Louisville, Kentucky; Murfreesboro, Tennessee; Sioux Falls, South Dakota und Albuquerque, New Mexico. Am 30. Mai verlor ein Journalist in Fort Wayne, Indiana, ein Auge, als ein Polizist ihm eine Tränengasgranate ins Gesicht feuerte.
Fakten zur Analyse von Amnesty International
500
Videos analysiert
125
Fälle von Polizeigewalt
40
US-Bundestaaten & Discrict of Columbia
Rechtliche Analyse zur Gewaltanwendung: Sicherheitskräfte wendeten unverhältnismäßig und willkürlich Gewalt an
Unverhältnismäßige Gewaltanwendung gegen friedliche Demonstrant*innen verstößt sowohl gegen die US-Verfassung als auch gegen internationale Menschenrechtsnormen. Strafverfolgungsbehörden aller Ebenen sind verpflichtet, friedliche Versammlungen zu respektieren, zu schützen und deren Durchführung zu gewährleisten.
Während die Mehrheit der Protestierenden friedlich war, griffen einige zu gewalttätigen Mitteln. In vielen Fällen haben die Sicherheitskräfte jedoch nicht auf einzelne Verstöße reagiert, sondern unverhältnismäßig und willkürlich Gewalt gegen ganze Demonstrationen angewendet.
Die Sicherheitskräfte dürfen bei öffentlichen Versammlungen nur dann auf Gewalt zurückgreifen, wenn diese absolut notwendig und zum Erreichen eines legitimen Ziels der Strafverfolgung als verhältnismäßig einzustufen ist, um so auf schwerwiegende Gewalt zu reagieren, die das Leben oder die Rechte anderer bedroht. Aber selbst dann müssen die Behörden streng zwischen friedlichen Demonstrant*innen sowie Passant*innen einerseits und aktiv an der Gewalt beteiligten Personen andererseits unterscheiden. Die Gewalttaten Einzelner rechtfertigen niemals die unverhältnismäßige Anwendung von Gewalt gegen friedliche Demonstrant*innen als Gruppe. Zudem ist der Einsatz von Gewalt nur solange zulässig, bis die unmittelbare Bedrohung anderer eingedämmt ist.
Bei Einschränkungen öffentlicher Versammlungen darf es nicht zu Diskriminierungen aufgrund von Hautfarbe, ethnischer Zugehörigkeit, politischer Ideologien oder anderer sozialer Kriterien kommen.
Reformen im Polizeiapparat dringend notwendig
In einem am 16. Juni erlassenen Präsidentendekret forderte Donald Trump Anreize zur Begrenzung des Einsatzes von Würgegriffen, wie sie bei der Tötung von
George Floyd zur Anwendung kamen, sowie die Einrichtung einer landesweiten Datenbank zur Erfassung von Vorwürfen übermäßiger Gewaltanwendung durch Polizeikräfte.
In mehreren US-Bundesstaaten und auf kommunaler Ebene haben Polizeieinheiten nach Beginn der Proteste Teilreformen angestoßen. Dazu zählt auch die Einstellung des Einsatzes bestimmter Waffen gegen Demonstrierende wie Tränengas. In Minneapolis sprach sich eine Mehrheit des Stadtrats dafür aus, die örtliche Polizei aufzulösen und durch wirksamere Institutionen zur Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit zu ersetzen.
Amnesty International fordert echte und dauerhafte Reformen der US-Polizei auf breiter Ebene. Dazu zählen:
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ein Ende der außergerichtlichen Hinrichtungen von Schwarzen durch die Polizei sowie unabhängige, unparteiische Ermittlungen, um die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen und Gerechtigkeit für die Opfer und Überlebenden zu ermöglichen.
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die Gewährleistung des Rechts auf friedlichen Protest gegen Polizeigewalt, ohne dass Demonstrant*innen, Journalist_innen oder Unbeteiligte von Polizeiübergriffen bedroht sind.
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die Verabschiedung von Bundesgesetzen, einschließlich des PEACE Acts, sowie von Gesetzen auf Bundesstaateneben, um die Gewaltanwendung seitens der Polizei auf das unbedingt erforderliche und verhältnismäßige Maß zu beschränken.
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die Beendigung der „qualifizierten Immunität“, die verhindert, dass Polizeikräfte zur Rechenschaft gezogen werden, wenn sie gegen das Gesetz verstoßen.
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die Verabschiedung von Bundesgesetzen zur Entmilitarisierung der Polizeikräfte.
"Friedlich die eigene Meinung zu äußern ist ein in der Verfassung verankertes Recht, das sich in internationalen Menschenrechtsnormen spiegelt. Dieses Recht mit Gewalt, Tränengas und Pfefferspray zu verweigern, ist ein unverkennbares Zeichen für Unterdrückung“, sagte Brian Griffey, Nordamerika-Experte/Berater bei Amnesty International.
Es braucht wirkungsvolle, systemische und dauerhafte Polizeireformen auf allen Ebenen, damit sich die Menschen im ganzen Land sicher dabei fühlen, auf die Straße zu gehen und frei und friedlich ihre Meinung zu äußern, ohne die Beamten fürchten zu müssen, die geschworen haben, sie zu beschützen.
Brian Griffey, Nordamerika-Experte/Berater bei Amnesty International