Gewaltsame Verfolgung in Myanmar
18. September 2017Hunderttausende Rohingya fliehen vor der Gewalt des Militärs nach Bangladesch
Wer sich dem Fischerdorf Shamlapur unweit des langen, flachen Sandstrandes von Cox’s Bazar nähert, merkt schnell, dass etwas nicht stimmt. Zehntausende erschöpfte Menschen ergießen sich aus maroden Booten, mit denen sie über den Grenzfluss Naf aus Myanmar übergesetzt sind. Müde und traumatisiert suchen sie Zuflucht, wo sie nur können. In einem Schulgebäude, in dem ich mich umsehen konnte, befanden sich Hunderte Personen, etwa die Hälfte von ihnen Kinder. Es herrschte völlige Stille. Noch nicht einmal ein Weinen oder Lachen war zu vernehmen – selbst die Babies waren apathisch und gaben keinen Laut von sich.
Innerhalb von nur gut 14 Tagen sind ungefähr 370.000 muslimische Rohingya – zu 80 Prozent Frauen und Kinder – aus dem myanmarischen Bundesstaat Rakhine nach Bangladesch geflohen. Sie verließen ihre Häuser in Panik, auf der Flucht vor brutalen Militärangriffen, offenbar Vergeltungsmaßnahmen für eine Reihe von Anschlägen durch aufständische Rohingya, bei denen zwölf Menschen getötet wurden. In diesem militärischen Rachefeldzug ist nicht einmal ein Anschein von Verhältnismäßigkeit oder Rechtmäßigkeit zu erkennen. Amnesty International und andere Menschenrechtsorganisationen beobachten die Situation in dieser konfliktreichen Region bereits seit Langem. Seit fünf Jahren hat es dort keine derartige Gewalt mehr gegeben.
Die myanmarischen Behörden setzen alles daran, eine unabhängige Berichterstattung über den Konflikt zu verhindern. Auf Satellitenbildern ist allerdings zu sehen, wie Hunderte Häuser in Flammen aufgehen. Es gibt zwar glaubwürdige Berichte darüber, dass bewaffnete Rohingya-Gruppen selbst einige Feuer gelegt haben. Die meisten Brände scheinen jedoch auf das Konto von Militärangehörigen zu gehen. Gemeinsam mit lokalen Bürgerwehrmitgliedern umstellte das Militär laut Augenzeugenberichten ganze Dörfer und kündigte mit Schüssen in die Luft seine Ankunft an. Die Angreifenden hielten Bewohnerinnen und Bewohner mit Stöcken, Metallstangen und langen Messern in Schach. Wer zu fliehen versuchte, wurde von Militärangehörigen beschossen.
Was sich gerade in Rakhine abspielt, ist kein sorgfältig geplanter Einsatz zur Aufstandsbekämpfung. Vielmehr kann das Vorgehen als ethnische Säuberung beschrieben werden, da die Rohingya offenbar aufgrund ihrer Religion und ethnischen Zugehörigkeit ins Visier genommen werden. Rechtlich gesehen handelt es sich hierbei ebenso wie bei der gewaltsamen Vertreibung von 25 Prozent aller myanmarischen Rohingya um Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
In meinen ersten 36 Stunden hier dokumentierte ich 15 Fälle von Schusswunden und Todesfällen. Bis auf eine Person waren alle Betroffenen entweder am Oberkörper oder an den Armen getroffen worden, was zu schweren bis tödlichen Verletzungen führte. Wer versuchte, den Verwundeten zu helfen, wurde selbst angegriffen.
Ich sprach mit Karam, einem jungen Mann aus Maungdaw, dem das Hinsetzen offensichtlich Schmerzen bereitete. Seine Verletzungen waren noch ganz frisch. Er hob seinen Lungi an, ein traditionelles Kleidungsstück für Männer in Myanmar, um mir eine perfekt symmetrische Prellung auf beiden Beinen zu zeigen. Karam wurde mit Stöcken und Metallstangen auf die Beine geschlagen, als er versuchte, seinem 17-jährigen Bruder zu helfen, der bei einem Fluchtversuch von Sicherheitskräften in den Rücken geschossen worden war.
So kraftvoll waren die Schläge, dass sie einen tiefen Abdruck auf Karams Beinen hinterließen. Seine Rippen waren außerdem angebrochen, was ihm Atembeschwerden bereitete. Karam gelang es schließlich, mit seinem Bruder vor den Angreifern zu fliehen. Sie erhielten Hilfe von einer Gruppe Rohingya-Männer und hofften, in Bangladesch medizinische Versorgung für seinen Bruder vorzufinden. Dieser starb jedoch bei der Überquerung des Flusses.
Geschichten wie die von Karam sind in Bangladesch trauriger Alltag. Seit 1978 müssen Angehörige der Rohingya immer wieder vor Angriffen des Militärs fliehen und sich auf die beschwerliche Suche nach Sicherheit und einem Leben in Würde begeben. Die von der UN-Flüchtlingsagentur betriebenen Lager sind schon lange voll. Und auch die notdürftig errichteten Unterkünfte können niemanden mehr aufnehmen. Für Neuankömmlinge ist daher erst einmal kein Platz. Die Berichte der Geflüchteten decken sich mit den Recherchen von Amnesty International vom Dezember 2016, im Zuge derer die Organisation zu dem Schluss kam, dass die systematischen Angriffe auf die Rohingya als Verbrechen gegen die Menschlichkeit betrachtet werden können.
Dieser Konflikt ist nicht neu, sondern schwelt bereits seit vielen Jahrzehnten. Die Notlage, in der sich die Rohingya befinden, geht auf ein System der Diskriminierung zurück, das ihnen jegliche Anerkennung und Würde raubt. Das myanmarische Staatsangehörigkeitsgesetz von 1982 erkannte ihnen Rechte ab, die eigentlich jedem Menschen zustehen. Die Rohingya und auch andere ethnische Minderheiten werden in Myanmar systematisch marginalisiert. Die myanmarische Gesellschaft ist schon lange gespalten. Die nun zu beobachtende Gewalt ist das Resultat.
Aung San Suu Kyi hat vielleicht Regierungsbefugnisse, aber Kontrolle hat sie keine. Sie fordert Zeit und Geduld, während sie im Schatten eines mächtigen Militärs regiert, welches nach wie vor wichtige Ministerien, die innere Sicherheit und ein Viertel des Parlaments kontrolliert. Zeit haben die Rohingya jedoch keine. Aung San Suu Kyi hat eine moralische Verantwortung, die sie nun schon viel zu lange verleugnet. Doch sie setzt sich in keiner Weise für die unterdrückten Rohingya ein. Nicht nur schweigt sie zu diesem Thema, sie nutzt ihre einst so einflussreiche Stimme gar dazu, die Menschenrechtsverstöße noch zu bemänteln. So hat sie Mitarbeitenden von Hilfsorganisationen nachgesagt, sie würden "Terroristen" unterstützen, und gleichzeitig die begangenen Menschenrechtsverletzungen abgestritten.
Die Verantwortung für diesen Konflikt liegt vornehmlich beim myanmarischen Militär, das eine Kampagne zur Kollektivbestrafung aller Rohingya in Myanmar durchführt. Die Armee muss für die von ihren Angehörigen begangenen Straftaten zur Rechenschaft gezogen werden. Die internationale Gemeinschaft muss entschieden handeln, um zu verhindern, dass Hunderte weitere Häuser in Brand gesteckt und immer mehr Menschen zur Flucht gezwungen werden.
Ein Geflüchteter, Mohammed, zeigte mir die Schusswunde an seinem linken Bein, die ihm bei seinem Fluchtversuch zugefügt wurde. Er versteckte sich hinter einem Baum und sah, wie Soldaten seinem Bruder die Hände hinter dem Rücken fesselten. Später rief er bei seinem Bruder auf dem Handy an, um sich zu vergewissern, dass mit ihm alles in Ordnung war. Ein Angehöriger des Militärs nahm ab und sagte: "Dein Bruder wurde getötet. Du kannst aus deinem Versteck herauskommen und ihn mitnehmen." Wenn die internationale Gemeinschaft nicht umgehend handelt, haben die Rohingya in Myanmar bald nichts mehr außer die Leichen ihrer Toten und die Ruinen ihrer Häuser.
Tirana Hassan ist Leiterin des Bereichs Krisenreaktion bei Amnesty International.