Afghanistan: Internationaler Strafgerichtshof sollte den Forderungen der Opfer entsprechen
11. Dezember 2023Zusammenfassung
- Amnesty International fordert Internationalen Strafgerichtshof auf, Opfern von Verbrechen in Afghanistan vor 2021 Priorität einzuräumen und die Ermittlungen zu beschleunigen.
- Entscheidung des Chefanklägers, Ermittlungen gegen US-Militär und CIA zurückzustellen, wird kritisiert, da sie den Ruf der internationalen Justiz schädigt. Amnesty International fordert eine Überprüfung dieser Entscheidung.
Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) muss den Betroffenen von Verbrechen, die von den Taliban und anderen Akteuren in Afghanistan vor der Machtübernahme im Jahr 2021 begangen wurden, Priorität einräumen und die Rechtsprechung beschleunigen, erklärte Amnesty International anlässlich der jährlichen Konferenz der Vertragsstaaten des Internationalen Strafgerichtshofs IStGH, die dieses Jahr vom 4. bis 14. Dezember in New York stattfindet.
Amnesty International fordert erhebliche weitere Fortschritte bei den längst überfälligen Ermittlungen des IStGH in Afghanistan, über die öffentlich und transparent berichtet werden muss, um eine sinnvolle Beteiligung lokaler Akteure, einschließlich der Familienangehörigen und Überlebenden, zu ermöglichen. Insbesondere muss der IStGH über seine Fortschritte und, soweit möglich, über die allgemeinen Parameter der untersuchten Fälle Auskunft geben.
„Seit fast einem halben Jahrhundert des Konflikts herrscht in Afghanistan eine Kultur der Straflosigkeit für Verbrechen nach dem Völkerrecht vor. Die Entscheidung des IStGH, die Ermittlungen im vergangenen Jahr wieder aufzunehmen, hat zwar Tausenden von Opfern von Völkerrechtsverbrechen wirklich Hoffnung gegeben, den längst überfälligen Zugang zu Gerechtigkeit, Wahrheit und Wiedergutmachung zu erhalten. Die Anklagebehörde des IStGH muss jedoch ihre Zusage konsequent einhalten und Fortschritte bei ihren Ermittlungen erzielen“, sagte Smriti Singh, Regionaldirektorin für Südasien bei Amnesty International.
Das Land befindet sich nach wie vor in einer Krise und der IStGH ist eine wichtige Institution bei den Bestrebungen nach Gerechtigkeit für alle Opfer in Afghanistan. Für viele Betroffene ist der IStGH der einzige konkrete Weg zu Gerechtigkeit und einem Ende der Straflosigkeit.
Smriti Singh, Regionaldirektorin für Südasien bei Amnesty International
Auf der Konferenz der Vertragsstaaten fordert Amnesty International die Mitgliedstaaten des Römischen Statuts auf, dafür zu sorgen, dass der IStGH mit den notwendigen Ressourcen ausgestattet wird, um wirksame Ermittlungen zu völkerrechtlichen Verbrechen, einschließlich Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, wie z.B. die Verfolgung von Frauen, durchführen zu können. Dazu gehören die Verbrechen gegen Frauen und Mädchen, die schiitischen Hazara oder andere religiöse Minderheiten sowie die im Zusammenhang mit den bewaffneten Konflikten in Afghanistan vor und nach der Machtübernahme der Taliban im Jahr 2021 begangen wurden. Angesichts der großen Herausforderungen bei den Ermittlungen in Afghanistan müssen sich die Mitgliedstaaten verpflichten, dabei ihre Zusammenarbeit mit dem IStGH in Afghanistan zu verstärken.
Außerdem muss der IStGH mit angemessenen finanziellen und technischen Mitteln ausgestattet werden, damit die afghanischen Betroffenen ihre Rechte vor dem Gerichtshof sinnvoll und wirksam wahrnehmen können.
Auch wenn der IStGH für die Gewährleistung der Rechenschaftspflicht in Afghanistan von entscheidender Bedeutung ist, sind ergänzende Bemühungen wie die Sammlung und Sicherung von Beweismaterial für künftige Rechenschaftsprozesse und Strafverfolgungen auf nationaler Ebene in Afghanistan von entscheidender Bedeutung. Insbesondere Staaten, die dem Römischen Statut beigetreten sind, sollten solche ergänzenden Bemühungen unterstützen. Dies kann unter anderem durch die Ausübung der universellen Gerichtsbarkeit und durch die Unterstützung der Einrichtung eines unabhängigen internationalen Rechenschaftsmechanismus geschehen, beispielsweise im Rahmen des UN-Menschenrechtsrats.
Auf heftige Kritik war 2021 die Entscheidung des Chefanklägers gestoßen, Ermittlungen zu Verbrechen, die vom US-Militär und der CIA sowie den ehemaligen afghanischen Nationalen Sicherheitskräften (ANSF) begangen worden sein sollen, zurückzustellen.
Diese Entscheidung des Chefanklägers könnte dazu beitragen, dass der Eindruck eines selektiven Systems der internationalen Justiz entsteht, in dem die Interessen mächtiger Staaten Vorrang vor den Interessen der Gerechtigkeit für die Opfer von Verbrechen nach internationalem Recht haben.
Amnesty International fordert nach wie vor, die Entscheidung aus dem Jahr 2021 zu überdenken, die Ermittlungen zu mutmaßlichen Kriegsverbrechen der USA und der ehemaligen afghanischen Streitkräfte zurückzustellen. Sie schädigt weiterhin den Ruf der internationalen Justiz. Für eine „Entpriorisierung“ gibt es keine Rechtfertigung. Kein Opfer hat weniger Gerechtigkeit verdient als andere.
Smriti Singh, Regionaldirektorin für Südasien bei Amnesty International
„Die Menschen in Afghanistan verdienen ein Ende der Straflosigkeit und einen Weg zu Gerechtigkeit, Wahrheit und Wiedergutmachung“, so Smriti Singh weiter.
Hintergrund
Afghanistan befand sich von 2007 bis 2017 unter vorläufiger Prüfung durch den IStGH.
2023 dokumentierte Amnesty International die diskriminierenden Einschränkungen der Rechte von Frauen und Mädchen durch die Taliban seit der Machtübernahme im Jahr 2021, die zusammen mit der systematischen Gewaltanwendung und dem Missbrauch durch die Taliban dem Verbrechen gegen die Menschlichkeit der geschlechtsspezifischen Verfolgung gleichkommen könnten. Darüber hinaus dokumentierte Amnesty die Kriegsverbrechen der Taliban und andere Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht im Zusammenhang mit dem bewaffneten Konflikt mit der Nationalen Widerstandsfront in der Provinz Pandschir, darunter das Kriegsverbrechen der kollektiven Bestrafung gegen die Bewohner*innen von Pandschir. Über viele Jahre hinweg hat Amnesty International auch mehrere Fälle von Völkerrechtsverbrechen dokumentiert, die durch die Afghanischen Nationalen Streitkräfte, das US-Militär und die Taliban begangen wurden.