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Neuer Amnesty Bericht zur Ukraine: Keine angemessenen Unterkünfte für ältere Menschen bei eisigen Temperaturen

6. Dezember 2022

Zusammenfassung

  • Anzahl der Toten und Verletzten unter Senior*innen höher als in anderen Bevölkerungsgruppen
  • Ältere Menschen leben unter gefährlichen Bedingungen in zerstörten Häusern
  • Tausende von vertriebenen älteren Menschen leben seit der russischen Invasion in überfüllten staatlichen Einrichtungen

Für ältere Menschen in der Ukraine ist das Risiko, bei Angriffen der russischen Streitkräfte verletzt oder getötet zu werden, unverhältnismäßig hoch. Auch ist es für sie viel schwerer, nach einer Vertreibung neuen Wohnraum zu finden. Das zeigt der neue Bericht von Amnesty International "I used to have a home’: Older people’s experience of war, displacement, and access to housing".

Ältere Menschen müssen dringend evakuiert werden

Der Amnesty-Bericht zeigt auf, dass ältere Menschen häufig in den Konfliktgebieten bleiben. Oft sind sie einfach nicht mehr in der Lage, zu fliehen, obwohl die Lebensbedingungen in den stark beschädigten Wohnungen gefährlich sind. Diejenigen, die noch fliehen können, können sich oft die Mietkosten ihrer neuen Unterkunft nicht leisten. Deswegen sind Tausende in völlig überfüllten staatlichen Einrichtungen untergebracht, die aufgrund von Personalmangel die erforderliche Betreuung nicht gewährleisten können.

Die ukrainische Regierung hat erhebliche Anstrengungen zur Evakuierung der Bewohner*innen von Konfliktgebieten unternommen. So hat sie im Juli die obligatorische Evakuierung von rund 200.000 Menschen aus der Region Donezk angekündigt.

Doch die Kosten und die Logistik für die Bereitstellung von Wohnraum für ältere Kriegsflüchtlinge sollten nicht allein von der Ukraine getragen werden. Amnesty International fordert andere Länder auf, die Evakuierung älterer Menschen in geeignete Unterkünfte im Ausland zu unterstützen, wo immer dies möglich ist. Besonderes Augenmerk sollte dabei auf Personen mit Behinderungen liegen. Internationale Organisationen sollten mehr tun, um ältere Menschen finanziell zu unterstützen, damit sie sich eine Wohnung leisten können. In Zusammenarbeit mit den ukrainischen Behörden sollten sie in die Liste derjenigen aufgenommen werden, die bei der Unterbringung in neu gebauten Wohnungen Vorrang haben.

Mit dem Einsetzen der eisigen Wintermonate müssen ältere Menschen in barrierearme Unterkünfte evakuiert werden, und die Reparatur ihrer Häuser muss Vorrang haben.

Laura Mills, Expertin für ältere Menschen und Menschen mit Behinderungen bei Amnesty International

Unverhältnismäßig hohe Risiken für ältere Menschen

In der Ukraine machen die über 60-Jährigen knapp ein Viertel der Bevölkerung aus. Gleichzeitig sind ältere Menschen unverhältnismäßig stark von den Angriffen betroffen: Nach Angaben des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte, das Daten über zivile Opfer in der Ukraine sammelt, machten Menschen über 60 Jahre 34 % der von Februar bis September 2022 getöteten Zivilpersonen aus (sofern ein Alter angegeben wurde).

Ältere Menschen, die häufiger gesundheitliche Probleme haben, sind auch in den besetzten Gebieten stärker gefährdet. Dort haben die russischen Streitkräfte den Zugang für humanitäre Hilfe stark eingeschränkt, was eine massive Verletzung des Völkerrechts darstellt.

Einige Senior*innen haben sich dafür entschieden, in ihrem Zuhause zu bleiben. Andere berichteten Amnesty International, dass sie nicht fliehen konnten, weil sie nur unzureichend über die Evakuierungsmaßnahmen informiert worden waren.

Etwa Liudmyla Zhernosek, 61 Jahre alt, die mit ihrem 66-jährigen Mann, der einen Rollstuhl benutzt, in Tschernihiw lebt. Sie sagte: "Ich sah jeden Tag jüngere Leute mit Rucksäcken an meinem Haus vorbeigehen. Erst später erfuhr ich von anderen im Treppenhaus, dass sie ins Stadtzentrum gingen, da von dort aus noch Evakuierungen stattfanden. Aber das wären 40 Minuten Fußmarsch gewesen, ich konnte das mit meinem Mann nicht schaffen. Niemand hat uns von Evakuierungen erzählt, ich habe es immer erst hinterher erfahren."
Amnesty International hat auch dokumentiert, dass ältere Menschen in Wohnungen ohne Strom, Gas oder fließendes Wasser leben. Fenster oder Dächer, die während der Kämpfe beschädigt worden waren, boten vor Regen, Schnee und Kälte keinen Schutz mehr.

Als Amnesty International die 76-jährige Hanna Selivon in Tschernihiw befragte, war nur das Badezimmer überdacht, wo Freiwillige eine Matratze in die Badewanne gelegt hatten, damit sie schlafen konnte. Hanna sagte: "Alle in unserer Straße sind weg. Die Einzigen, die übrig blieben, waren ich und zwei andere ältere Frauen... Eine hatte eine Behinderung. Wir konnten einfach nirgendwo hingehen. Ich versteckte mich in einem Loch in meinem Keller... Am 29. März gab es viel Beschuss, und als ich [aus dem Keller] herauskam, sah ich, dass Flammen loderten... dass [mein Haus] brannte. Ich konnte meine Beine nicht bewegen."

Krieg in der Ukraine: Ältere Menschen besonders bedroht

  • Hanna steht in ihrem zerstörten Haus in Tschernihiw, Ukraine. Juli 2022. (c) Amnesty International
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    Eine ältere Frau mit einer Behinderung wird in der Region Charkiw, Ukraine, evakuiert. Oktober 2022. (c) Amnesty International
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    Ein älterer Mann in seinem Haus, das durch Angriffe in der Region Charkiw, Ukraine, beschädigt wurde. Oktober 2022. (c) Amnesty International
  • Hanna in ihrem zerstörten Haus in Tschernihiw, Ukraine. Juli 2022. (c) Amnesty International

Methodik

Amnesty International hat für diesen Bericht 226 Personen befragt, unter anderem bei persönlichen Besuchen in sieben staatlichen Einrichtungen. Die Untersuchung wurde zwischen März und Oktober 2022 durchgeführt und umfasste eine vierwöchige Reise in die Ukraine im Juni und Juli 2022.

Verantwortung für Kriegsverbrechen

Seit Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die gesamte Ukraine am 24. Februar 2022 dokumentiert Amnesty International Kriegsverbrechen und Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht. Alle Berichte von Amnesty International finden Sie hier.

Amnesty International hat in den vergangenen Monaten wiederholt dazu aufgerufen, die Verantwortlichen für die Aggression gegen die Ukraine sowie für Menschenrechtsverstöße und Kriegsverbrechen zur Rechenschaft zu ziehen. Amnesty International begrüßt die fortlaufenden Untersuchungen des Internationalen Strafgerichthofes in der Ukraine sowie die Ermittlungen des Generalbundesanwalts in Deutschland. Eine umfassende Einforderung der Rechenschaftspflicht kann nur mit konzertierten Aktionen der Vereinten Nationen und ihrer Organe und mit Initiativen auf nationaler Ebene gemäß dem Weltrechtsprinzip gelingen.

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