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Jahr der Unterdrückung: Wie die Führung Hongkongs das Narrativ des Protests manipuliert

12. Juni 2020

Von Joshua Rosenzweig, Leiter des China-Teams bei Amnesty International

Es war ein „Ich war dabei“-Moment. Eine Million Menschen — von Kindern bis zu Großeltern – trotzten der hohen Luftfeuchtigkeit des Sommers, um sich in Massen in der Hennessey Road in Hongkong zu versammeln und die Rechte ihrer Stadt zu verteidigen. Der 9. Juni 2019 war ein Tag der Vorahnung, des Trotzes und der Hoffung für diejenigen, die auf die Straße gingen, um sich gegen einen Gesetzentwurf zu wehren, der Auslieferungen nach China ermöglicht hätte.

Doch die Hongkonger Behörden möchten nicht, dass wir diesen Tag so in Erinnerung behalten. 

Ein Jahr nach der größten Demonstration in Hongkong erfährt die Bewegung, die eine ganze Generation aufrüttelte, den Druck einer unerbittlich harten Regierung. In den vergangenen zwölf Monaten begegneten die Behörden den weitestgehend friedlichen Protesten mit Schlägen, Tränengas und Schüssen. Die wieder aufgenommenen Demonstrationen gegen den von Peking eingebrachten beängstigenden Gesetzentwurf zur nationalen Sicherheit treffen auf eine bereits bekannte harte Hand der Polizei.

Und jenseits des Aufruhrs der Straße legt die Hongkonger Regierung eine wohl kalkulierte Haltung an den Tag. Neben der brutalen Gewalt hat sie die Propaganda zur Waffe erklärt, um einen zweiten Sommer des Unmuts zu unterdrücken, noch ehe er richtig in Gang kommt.

Es war keine Überraschung, dass die zahnlose Hongkonger Polizeibeschwerdestelle die Beamt*innen der Stadt in ihrem im vergangenen Monat veröffentlichten „Fact-Finding-Bericht“ von jedem Fehlverhalten freisprach. Schockierender war die Art und Weise, wie der Bericht die Geschichte mit Dreistigkeit umschreibt und die Protestierenden als die Agressor*innen hinstellt. Oder, genauer gesagt, als auf gewaltsame Störung versessene „Terrorist*innen“.

 

Trotz aller Regierungsanstrengungen, die Bewegung auszulöschen, ist die Protestbewegung in Hongkong weit davon entfernt, sich geschlagen zu geben.

Joshua Rosenzweig, Leiter des China-Teams bei Amnesty International

Dies ist eine Strategie aus der Trickkiste der nationalen Sicherheit der chinesischen Regierung. Denn dort gilt Stabilität mehr als alles andere — auch als die Menschenrechte — und Kritiker*innen werden beschuldigt, die Stabilität zu gefährden. Mithilfe dieser Formel kann das Narrativ so zuverlässig kontrolliert werden, dass Donald Trump sie derzeit in einer eigenen Variante einsetzt: Er rückt die Einstufung als „Terrorismus“ ins Zentrum der Debatte um die Black-Lives-Matter-Proteste.

Und schon ist es die angebliche Bedrohung Hongkongs durch den „Terrorismus“, die China scheinbar dazu gezwungen hat, die Dinge mit einem Gesetz zur nationalen Sicherheit, das schon in den nächsten Monaten in Kraft treten könnte, selbst in die Hand zu nehmen.

Details dazu, wie das Gesetz schlussendlich aussehen könnte, sind spärlich. Doch dies allein ist schon Grund zur Sorge angesichts der chinesischen Historie einer allgemeinen und vagen Gesetzgebung zur Niederschlagung aller Arten von Dissens. Mit der Denunzierung von „Separatismus, Subversion, Terrorismus und ausländischer Einmischung“ wird die Sorge groß, dass das Gesetz als Werkzeug eingesetzt wird, um Unterstützer*innen der Bewegung zu bestrafen.

Die schockierende Härte des Gesetzes zur nationalen Sicherheit schickte eine Schockwelle durch die Demokratiebewegung, doch dies ist nur die vorerst letzte Eskalation des Dauerangriffs auf die Menschenrechte in Hongkong.

Als die Hongkonger Regierungschefin Carrie Lam bei der Pressekonferenz den lahmen Bericht zur Polizeikontrolle vorstellte, war im Hintergrund das Foto einer in Flammen stehenden Barrikade mit dem Titel „Die Wahrheit über Hongkong“ zu sehen.

Die Tatsache, dass einige Protestierende auf der Höhe der Proteste im letzten Jahr zu Gewalt griffen, wurde von den Behörden hochstilisiert und als Waffe eingesetzt. Doch diese Demonstrierenden stellten im Vergleich zu den friedlichen Protesten nur eine winzige Minderheit dar.

Die Regierung glaubt, dass sie diesen Kampf gewinnen muss, um die Kontrolle über das Narrativ zurückzuerlangen — sowohl zuhause als auch im Ausland. Das wird durch die kürzliche 30-Millionen-Dollar teure globale Branding-Kampagne deutlich, die den Anschein der Freiheit in dieser Stadt geben soll und darüberhinaus den Erfolg bei der Niederschlagung der gewalttätigen Minderheit zeigt. Eine Minderheit, die als die Täter*innen der „Aufstände“ von 2019 hingestellt werden.

Doch trotz aller Regierungsanstrengungen, die Bewegung auszulöschen, ist die Protestbewegung in Hongkong weit davon entfernt, sich geschlagen zu geben.

In den Monaten, in denen COVID-19 die Aktivist*innen von der Straße fernhielt, entwickelten sich die Proteste zu einem tagtäglichen Widerstand. Das beste Beispiel ist der boomende „Gelbe Wirtschaftskreis“ — gelb ist die Farbe der Regierung —, der die Menschen dazu ermutigt hat, diejenigen lokalen Geschäfte zu unterstützen, die die Proteste befürworten.

Jetzt kehren die Menschen angesichts der besseren Gesundheitslage langsam wieder auf die Straße zurück, trotz anhaltender Abstandsmaßnahmen, die manches Mal eingesetzt wurden, um die Menschen daran zu hindern. Die große Mehrheit bleibt friedlich — genau wie vor einem Jahr auf der Hennessey Road.

Die Kreativität und Widerstandskraft der Protestierenden macht es der Regierung fast unmöglich, sie zum Schweigen zu bringen. Statt sich die Forderungen anzuhören, beharrt die Regierung allerdings auf einen immer erbitterteren Kampf gegen den selbstgemachten Feind.

Da junge und alte Protestierende immer weiter das Wort ergreifen, Lieder singen und Slogans rufen, wirkt es arglistig, diese Bewegung als eine Bedrohung für die Stadt darzustellen. Die Protestierenden hatten nie die Absicht, Hongkong zu Fall zu bringen, sie versuchen es zu retten.

Erstveröffentlichung des Kommentars in der Hong Kong Free Press.