Es gibt keine denkbare Rechtfertigung dafür, in bewohnten Gebieten Streumunition einzusetzen, geschweige denn in der Nähe von schulischen Einrichtungen.
Agnès Callamard, internationale Generalsekretärin von Amnesty International
Untersuchung des Angriffs
Am Angriffsort von Drohnen aufgezeichnetes Filmmaterial zeigt, dass Streubomben an mindestens sieben Stellen in oder nahe dem Gebäude eingeschlagen sind, vier auf dem Dach und drei auf dem Gehweg direkt davor. Die Bilder zeigen auch zwei verletzte oder getötete Zivilpersonen sowie Blutlachen. Weitere 65 Fotos und Videoaufnahmen, die Amnesty International von einer Quelle vor Ort erhalten hat, zeigen weitere Einzelheiten vom Ort des Geschehens, die Betroffenen und ihre Angehörigen sowie die Schäden am Gebäude.
„Als ich [mit] meiner Frau dort entlangging, gab es auf einmal mehrere Explosionen“, berichtete ein älterer Mann einer Kontaktperson, die mit Amnesty International zusammenarbeitet. „Wissen Sie, alle waren voller Blut, alles. Schauen Sie …[Schimpfwort], es macht mich einfach fertig, dass es ein Kindergarten ist. Worauf schießen die denn? Auf militärische Objekte? Wo sind die?“
Der Gefechtskopf einer 220-Millimeter-Uragan-Rakete entweder vom Typ 9M27K oder 9M27K1 trägt dreißig Splitter-Bomblets vom Typ 9N210 oder 9N235, welche fast identisch sind und sich lediglich hinsichtlich der Zeitverzögerung bis zur Freisetzung ihrer Sprengladung unterscheiden. Die sieben Einschläge auf und neben dem Kindergartengebäude zeigen Schäden, die mit dem erwartbaren Schaden durch Streumunition vom Typ 9N210 oder 9N235 übereinstimmen, eingeschlossen charakteristische Absplitterungen auf dem Boden.
Zuerst von der investigativen Open-Source-Rechercheorganisation Bellingcat gemeldet, wurden Überreste des Gefechtskopfs und des Laderaums der 9M27K-Rakete 200 Meter weiter östlich aufgefunden. Open-Source-Berichte weisen darauf hin, dass sich russische Streitkräfte zur Zeit des Angriffs westlich von Ochtyrka aufhielten, wo sich der Flugbahn zufolge der Raketenabschussort befand. Ein Logistiklagerplatz 300 Meter nördlich des Kinderheims könnte das Ziel der Attacke gewesen sein. Mehrfachraketenwerfersysteme (MLRS) wie die bei diesem Angriff benutzten Uragan mit 220-Millimeterraketen sind ungesteuert und notorisch ungenau und sollten niemals in von Zivilpersonen bewohnten Gebieten eingesetzt werden. Dies auch deshalb, weil sie Sprengladungen über eine weite Fläche verstreuen und durch eine extrem hohe Blindgängerquote von bis zu 20 Prozent auch später noch für Zivilpersonen eine Bedrohung darstellen. Streubomben sind von Natur aus unterschiedslos wirkende Waffen, die durch ein von über 100 Staaten unterstütztes Abkommen international geächtet sind. Die Verwendung dieser Waffen verstößt gegen das Verbot wahlloser Angriffe.
Vermehrt Angriffe auf schulische Einrichtungen
Dies ist der vierte Angriff in diesem Konflikt, der eine schulische Einrichtung getroffen hat und von Amnesty International verifiziert worden ist.
Am 17. Februar attackierten während verstärkter Beschüsse entlang der Kontrolllinie von Russland unterstützte Streitkräfte einen Kindergarten in der Stadt Stanyzja Luhanska, wobei drei Zivilpersonen verletzt wurden. Am Abend des 25. Februar beschädigte eine Rakete die Schule No. 48 in Mariupol, wodurch Fenster zerbarsten und die Wände von Metallsplittern durchlöchert wurden. Am 26. Februar schlug eine Explosivwaffe, höchstwahrscheinlich eine Artilleriegranate, in das Obergeschoss eines Kindergartens in Tschernihiw ein und löste ein Feuer aus, das vermutlich von VIIRS-Umweltsatellitensensoren entdeckt wurde.