Einschüchterung und Schikane
Das scharfe Vorgehen der Regierung gegen jede Art von Dissens hat im ganzen Land verheerende Folgen für die Meinungsfreiheit: Der Rechtsanwältin und Menschenrechtsverteidigerin Eren Keskin drohen 40 verschiedene Strafverfahren, ein Reiseverbot und Gefängnisstrafen, gegen die sie Rechtsmittel eingelegt hat. Sie sagte Amnesty International: „Ich versuche, meine Ansichten frei zu äußern, aber ich denke ganz klar zweimal nach, bevor ich etwas sage oder schreibe.“
Mit Beginn der türkischen Militäroffensive im nordsyrischen Afrin am 20. Jänner 2018 wurden Hunderte Menschen ins Visier genommen, die sich gegen den Militäreinsatz stellten. Laut Angaben des Innenministeriums waren am 26. Februar bereits 845 Menschen wegen Postings in sozialen Medien festgenommen worden; gegen 643 Menschen liefen Gerichtsverfahren, und bei 1.719 Social-Media-Profilen wurden in Verbindung mit Afrin Ermittlungen durchgeführt.
Der Menschenrechtsverteidiger Ali Erol wurde fünf Tage lang in Polizeigewahrsam gehalten, nachdem er auf Twitter ein Bild mit einem Olivenbaum zusammen mit Hashtags gegen den Krieg gepostet hatte. Ihm droht ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren auf der Grundlage von „Propaganda für eine terroristische Vereinigung“ und „Anstiftung der Öffentlichkeit zu Hass oder Feindseligkeit“.
Im März wurden mehr als 20 Studierende von der Polizei festgenommen, weil sie auf dem Campus an einer Protestveranstaltung gegen den Krieg teilgenommen hatten. Zehn von ihnen wurden später in Untersuchungshaft genommen.
Schließung von NGOs und Marginalisierung bestimmter Gruppen
Im Rahmen des Ausnahmezustands sind bisher mehr als 1.300 Nichtregierungsorganisationen dauerhaft geschlossen worden, weil sie nicht näher benannte Verbindungen zu „terroristischen“ Organisationen unterhalten haben sollen. Hierzu zählen auch Organisationen, die einst wichtige Dienstleistungen für bestimmte Gruppen bereitgestellt haben, beispielsweise für Überlebende sexualisierter und anderer geschlechtsspezifischer Gewalt, für Vertriebene oder für Kinder.
Zozan Özgökçe von der Frauenrechtsorganisation Van Kadýn Derneði (VAKAD) sagte Amnesty International: „Es gibt nun einen großen Mangel an Beratungs- und Hilfsdiensten für Überlebende. Es bricht mir wirklich das Herz.“ VAKAD leistete Unterstützung für Frauen in ländlichen Gemeinden im Osten der Türkei, die ansonsten nur schwer Zugang zu solchen Diensten haben. Die Organisation klärte Kinder über sexuellen Missbrauch auf und schulte Frauen in Sachen Selbstvertrauen und Finanzen. Sie ist nun geschlossen.
LGBTI-Organisationen berichten, in den „Untergrund“ gedrängt zu werden, da in mehreren Städten Veranstaltungen wie Gay-Pride-Paraden und Filmfestivals verboten worden sind. Ein Aktivist sagte Amnesty International: „Die meisten LGBTI+ in der Türkei haben heute mehr Angst als je zuvor. Überall im Land wird scharf gegen das Recht auf Meinungsfreiheit vorgegangen. LGBTI+ haben daher immer weniger Freiraum, sie selbst zu sein.“
„Außergewöhnliche Maßnahmen werden in der Türkei immer mehr zur Norm. Doch trotz der böswilligen und gezielten Attacken auf zahlreiche Personen und Gruppen gibt es dort nach wie vor mutige Menschen, die Flagge zeigen und ihre Stimme erheben“, sagt Gauri van Gulik.
„Die internationale Gemeinschaft muss nun Seite an Seite mit ihnen stehen und die türkischen Behörden auffordern, zivilgesellschaftliche Organisationen von den ihnen auferlegten Beschränkungen zu befreien, die Unterdrückung der Freiheiten zu beenden und dem Klima der Angst und Einschüchterung ein Ende zu setzen“, sagt Gauri van Gulik.