„Die Behauptung der Koalition, dass die Präzision der Angriffe es erlaubt hätte, den IS mit geringen zivilen Opfern aus Rakka zu vertreiben, hält einer genaueren Betrachtung nicht stand. In Rakka habe ich vor Ort ein Ausmaß von Zerstörung gesehen, das nicht geringer ist als in vielen anderen Konflikten, die ich in den letzten Jahrzehnten untersucht habe.“
„Die brutale Herrschaft des IS und dessen Missbrauch von Zivilist*innen als menschliche Schutzschilde entbindet die Koalition nicht von ihrer völkerrechtlichen Verpflichtung, die Zivilbevölkerung so weit wie möglich zu schützen. Was die Stadt in Ruinen legte und so viele Tote und Verletzte forderte, war der fortgesetzte Beschuss von Wohngebieten im Wissen darum, dass die Zivilbevölkerung dort eingeschlossen war. Auch Präzisionsgeschosse können nur so präzise sein wie die Wahl des Ziels“, so Rovera.
„Vernichtungskrieg“
Die von US-Verteidigungsminister Mattis als „Vernichtungskrieg“ gegen den IS angekündigte Offensive dauerte vom 6. Juni bis am 12. Oktober 2017. Die Einwohner*innen waren den Straßenkämpfen zwischen IS-Kämpfern und den kurdisch dominierten Kräften der SDF (Syrian Democratic Forces) und den pausenlosen Luft- und Artillerieangriffen schutzlos ausgeliefert.
Der IS verminte zudem die Fluchtrouten und schoss auf Fliehende. Die USA räumten ein, 35.000 Artilleriegeschosse abgefeuert zu haben – mehr als irgendwo sonst seit dem Vietnam-Krieg. „Bei der Zielunsicherheit von Artilleriegeschossen von mehr als 100 Metern ist die hohe Opferzahl und die weitreichende Zerstörung der Stadt keine Überraschung“, sagt Donatella Rovera dazu.
Albtraum für die Zivilbevölkerung
Munira Hashish, deren Familie 17 Opfer zu beklagen hatte, berichtete Amnesty: „Diejenigen, die blieben starben genauso, wie jene, die zu fliehen versuchten. Wir hatten kein Geld, um Schlepper*innen zu bezahlen, wir waren gefangen.“ Sie und ihre Kinder konnten über ein Minenfeld fliehen, indem sie „über die Leichen und das Blut derjenigen gingen, die vor uns versucht hatten, zu fliehen.“
Die Fayad-Familie wurde durch einen Luftangriff im Zentrum Rakkas, wo er IS Zivilist*innen als menschliche Schutzschilde festhielt, fast vollständig ausgelöscht – am letzten Tag der Offensive und nur wenige Stunden bevor die SDF und die Koalition den in Rakka verbliebenen IS-Kämpfern freies Geleit gewähren. „Wenn die Koalition am Ende bereit war, IS-Kämpfern freies Geleit und Straflosigkeit zu gewähren: Worin lag der militärische Vorteil, praktisch die ganze Stadt in Trümmer zu legen und so viele Zivilpersonen zu töten?“, fragt sich Amnesty-Researcher Benjamin Walsby.
Mutmaßliche Kriegsverbrechen
Das in den dokumentierten Fällen erkennbare Muster legt den Schluss nahe, dass das Vorgehen der Koalitionskräfte unverhältnismäßig war und Zivilpersonen und IS-Kämpfer unterschiedslos traf. Damit machte sich die Koalition mutmaßlicher Kriegsverbrechen schuldig.
Amnesty International hat die Verteidigungsministerien der USA, Großbritanniens und Frankreichs um Informationen über die Angriffe, die verwendeten Taktiken, Maßnahmen zum Schutz der Zivilbevölkerung und allfällige Untersuchungen darüber ersucht – bislang ohne substanzielle Antwort.
Die Forderungen von Amnesty
Amnesty ersucht die Mitglieder der Koalition
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öffentlich einzugestehen, dass die Offensive auf Rakka zahlreiche zivile Opfer und die weitgehende Zerstörung zivilen Besitzes in Rakka zur Folge gehabt hat
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Hinweise auf Verletzungen des humanitären Völkerrechts ernsthaft und unabhängig zu untersuchen, die Untersuchungsergebnisse öffentlich zu machen und die Einsatzregeln entsprechend anzupassen
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Den Opfern völkerrechtswidriger Angriffe Gerechtigkeit und angemessene Entschädigung widerfahren zu lassen
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ihre Verantwortung bei der Entminung, beim Wiederaufbau und bei der Unterstützung der Flüchtlinge aus Rakka wahrzunehmen