Ein Jahr russischer Angriffskrieg: Amnesty International fordert Gerechtigkeit für Betroffene in der Ukraine
22. Februar 2023Ein Jahr nach Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine ruft Amnesty International dazu auf, die Aufmerksamkeit auf die Betroffenen in der Ukraine zu richten. Die internationale Gemeinschaft muss konkrete Maßnahmen entwickeln, um den Opfern der russischen Aggression Gerechtigkeit zu verschaffen, so die Menschenrechtsorganisation.
Am 24. Februar 2022 begannen russische Streitkräfte eine groß angelegte Invasion der Ukraine, und damit laut Amnesty International „einen Akt der Aggression und eine Menschenrechtskatastrophe“. Seitdem haben die russischen Streitkräfte Kriegsverbrechen und andere Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht begangen, darunter außergerichtliche Hinrichtungen, Angriffe auf zivile Infrastruktur und Unterkünfte, Verschleppungen und Zwangsumsiedlungen von Zivilpersonen sowie rechtswidrige Tötungen in großem Umfang durch die Bombardierung von Städten.
Die Invasion dauert an und das volle Ausmaß der in der Ukraine begangenen Verbrechen ist noch nicht bekannt. Jetzt müssen die Forderungen der Opfer und Überlebenden nach Gerechtigkeit Vorrang haben. Die internationale Gemeinschaft hat die Pflicht, eindeutig klarzumachen, dass diejenigen, die für völkerrechtliche Verbrechen verantwortlich sind, nicht ungestraft bleiben, sondern zur Rechenschaft gezogen werden.
Während die russischen Streitkräfte ihre Offensive in der Ukraine zu verstärken scheinen, bleibt die Verpflichtung weiterhin dringend, diejenigen, die für Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen verantwortlich sind, zur Rechenschaft zu ziehen.
Agnès Callamard, internationale Generalsekretärin von Amnesty International
Seit Beginn des Krieges hat Amnesty International zahlreiche Kriegsverbrechen dokumentiert, darunter die gezielte Zerstörung wichtiger ziviler Infrastruktur und die Blockade von Hilfslieferungen für die Zivilbevölkerung.
Die Bewohner*innen der vom Konflikt betroffenen Gebieten sind ständigen Angriffen ausgesetzt und haben oft keinen Zugang zu Strom, Heizung oder Wasser. Viele Menschen, die in den von Russland besetzten Gebieten leben, benötigen nach wie vor dringend humanitäre Hilfe und medizinische Versorgung, doch wird ihnen das Recht verweigert, in die von der ukrainischen Regierung kontrollierten Gebiete zu reisen.
„Die Menschen in der Ukraine haben in den vergangenen zwölf Monaten dieses Angriffskrieges unvorstellbares Grauen erlebt. Wir sollten uns darüber im Klaren sein, dass an den Händen von Wladimir Putin und seinen Streitkräften Blut klebt. Die Überlebenden verdienen Gerechtigkeit und Entschädigung für alles, was sie erlitten haben. Die internationale Gemeinschaft muss standhaft bleiben und weitere Unterstützung leisten, damit der Gerechtigkeit Genüge getan wird. Nach einem Jahr ist es offensichtlich, dass noch mehr getan werden muss“, sagte Agnès Callamard.
Zehntausende Fälle von Kriegsverbrechen, einschließlich sexualisierter und geschlechtsspezifischer Gewalt, wurden bereits erfasst, doch die tatsächlichen Zahlen dürften noch viel höher liegen.
Gerechtigkeit für Betroffene – neue nationale und internationale Mechanismen
Die unmittelbare Reaktion auf den Krieg war ermutigend. So wurden sowohl auf nationaler als auch internationaler Ebene Untersuchungen zu völkerrechtlichen Verbrechen in der Ukraine eingeleitet. Doch umfassende Gerechtigkeit für die Ukraine kann nur erreicht werden, wenn den Betroffenen ihre Rechte zuteilwerden und wenn sie entschädigt werden. Dies wird nur möglich sein, wenn die internationale Gemeinschaft die bestehenden Justizmechanismen zuverlässig und nachhaltig unterstützt.
Im Zuge dieses Krieges ist das Leid unzähliger Menschen als Kollateralschaden abgetan worden. Doch wenn eine Mörsergranate einschlägt, gibt das nicht nur eine Fleischwunde, sondern sie zerstört ganze Existenzen und wichtige Infrastrukturen. Die Menschen können nicht einfach in den Trümmern ihres früheren Lebens weiterleben.
Agnès Callamard, internationale Generalsekretärin von Amnesty International
Darüber hinaus müssen auch neue nationale und internationale Mechanismen in Betracht gezogen werden. Ein Beispiel dafür ist der begrüßenswerte Beschluss des Menschenrechtsrats vom März 2022, eine unabhängige Untersuchungskommission einzusetzen. Solche Mechanismen könnten das internationale Justizsystem in Bezug auf die große Zahl von Kriegsverbrechen stärken. Zu diesen gehört auch das Verbrechen der Aggression, das aufgrund der begrenzten Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) bisher nicht verfolgt werden kann.
„Wir müssen nicht nur sicherstellen, dass die richtigen Mechanismen vorhanden sind, sondern auch dafür sorgen, dass die Personen, die für völkerrechtliche Verbrechen verantwortlich sind, vor Gericht gestellt werden und die Konsequenzen für ihr skrupelloses Handeln tragen müssen. Dazu gehört auch, dass gegen hochrangige militärische Befehlshaber und zivile Führungskräfte wegen Kriegsverbrechen und des Verbrechens der Aggression nach dem Völkerrecht ermittelt wird“, so Agnès Callamard.
Die Entwicklung solcher Verfahren kann komplex sein, aber es ist unbedingt erforderlich, dass nicht nur gegen die direkt Verantwortlichen auf niedriger Ebene, sondern auch gegen die höheren Ebenen der Befehlskette ermittelt wird. Wo auch immer Gerichtsverfahren stattfinden, müssen sie den internationalen Menschenrechtsstandards und den Standards für faire Gerichtsverfahren entsprechen, wobei die Überlebenden und ihre Bedürfnisse umfassend berücksichtigt werden müssen.
„Angesichts der Kriege, die in allen Teilen der Welt wüten und unsägliches Leid unter der Zivilbevölkerung verursachen, muss dies zu einer Blaupause für alle Konflikte werden. Die erste beispiellose Reaktion der internationalen Gemeinschaft, einschließlich der Arbeit des Internationalen Strafgerichtshofs, sollte der Mindeststandard für die internationale Justiz sein“, sagte Agnès Callamard.
Die internationale Gemeinschaft muss faire, wirksame und unparteiische Ermittlungen unterstützen. Die Staaten sollten die Ukraine auffordern, das Römische Statut zu ratifizieren, um ihr nationales Recht mit den Rechtsstandards im Bereich der internationalen Justiz in Einklang zu bringen, und die Zusammenarbeit mit dem IStGH zu verstärken. Gerechtigkeit für die Ukraine bedeutet auch, dass die Länder mit universeller Gerichtsbarkeit prüfen, wie dieser Mechanismus für die ukrainische Bevölkerung eingesetzt werden kann.
Humanitäre Unterstützung
Bei der Bereitstellung von Unterstützung muss die internationale Gemeinschaft die besonderen Bedürfnisse von Risikogruppen – wie Frauen, ältere Menschen, Menschen mit Behinderungen und Kinder – berücksichtigen. Sie muss bedenken, dass viele Menschen, darunter auch Kinder, aus der Ukraine nach Russland verschleppt oder in die von Russland besetzten Gebiete zwangsumgesiedelt wurden und nicht sicher nach Hause zurückkehren können. Diese Gruppen müssen vorrangig behandelt werden, und die gesamte humanitäre Hilfe für sie sollte auf ihre besonderen Bedürfnisse zugeschnitten sein.
Die Zusammenarbeit mit ukrainischen zivilgesellschaftlichen Organisationen ist ebenfalls von entscheidender Bedeutung, um die Bedürfnisse der Überlebenden in den Vordergrund zu stellen und die praktische Umsetzung der wirtschaftlichen und humanitären Hilfe zu gewährleisten. Die internationale Gemeinschaft muss sicherstellen, dass diese Zusammenarbeit in einer Weise erfolgt, die Transparenz, Effektivität und Sensibilität für die Betroffenen gewährleistet – und zwar während des gesamten Prozesses der humanitären Hilfe, des Wiederaufbaus, der Strafverfolgung der Verantwortlichen und der Wiedergutmachung.
Die Anerkennung des immensen physischen, psychischen und wirtschaftlichen Schadens, der der Zivilbevölkerung in der Ukraine im letzten Jahr zugefügt wurde, ist von entscheidender Bedeutung, um Gerechtigkeit und Entschädigung für die Überlebenden und Opfer des russischen Angriffs in der Ukraine zu gewährleisten.
Agnès Callamard, internationale Generalsekretärin von Amnesty International
Straflosigkeit beenden
Seit 2014 und anschließend mit dem Beginn der russischen Invasion in der Ukraine fordert Amnesty International Rechenschaft und dokumentiert Kriegsverbrechen und andere Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht.