„Während Litauen Zehntausenden Geflüchteten aus der Ukraine zu Recht einen herzlichen Empfang bereitet hat, könnte die Erfahrung der Inhaftierten, mit denen wir gesprochen haben, nicht unterschiedlicher sein. Dies gibt Anlass zu ernster Sorge über institutionellen Rassismus im litauischen Migrationssystem.“
Automatische, rechtswidrige Inhaftierung und Asylverweigerung
Vor dem Hintergrund der wachsenden Zahl an Personen, die an Litauens Grenze zu Belarus eintreffen, verabschiedete das litauische Parlament im Juli 2021 eine neue Gesetzgebung. Sie sieht eine automatische Inhaftierung von Menschen vor, die die Grenze nach Litauen ohne Einreiseerlaubnis überqueren.
Dies hatte zur Folge, dass Tausende von Menschen, darunter viele, die internationalen Schutz benötigen, über einen längeren Zeitraum festgehalten wurden. Zahlreichen Personen wurde zudem monatelang jegliche Möglichkeit vorenthalten, die Rechtmäßigkeit ihrer Inhaftierung von den Justizbehörden kontrollieren zu lassen. Bei vielen Menschen wurde der Antrag auf Asyl nie geprüft. Tausende weitere Personen wurden gewaltsam über die Grenze nach Belarus zurückgedrängt, wo sie keine Möglichkeit haben, um Schutz zu ersuchen.
Menschenrechtsverstöße gegen Inhaftierte
Hunderte weitere Personen werden in der Hafteinrichtung Medininkai festgehalten, wo sie in Containern auf einem Fußballplatz schlafen. Um die Toiletten aufzusuchen, müssen sie nach draußen gehen und im strengen litauischen Winter durch den Schnee laufen. Die Häftlinge, mit denen Amnesty International gesprochen hat, waren wegen des aggressiven Verhaltens des Wachpersonals in der Hafteinrichtung stark verängstigt.
Es gab zahlreiche Berichte über Misshandlungen, von denen einige den Tatbestand der Folter erfüllten, sowie über unverhältnismäßige Gewaltanwendung, einschließlich des Einsatzes von Pfefferspray und anderer Spezialausrüstung.
Außerdem wurden Häftlinge in Isolationshaft gesteckt und von Hunden gebissen, wenn sie zu fliehen versuchten. Gegen eine*n in der Einrichtung tätige*n Psychologen*in laufen derzeit Ermittlungen wegen angeblicher sexualisierter Gewalt gegen Inhaftierte in seiner*ihrer Obhut.
Darüber hinaus hat Amnesty International auch Fälle dokumentiert, in denen Häftlinge, insbesondere Schwarze Männer und Frauen, zutiefst beleidigenden und rassistischen Bemerkungen ausgesetzt waren.
Europäische Beschwichtigungspolitik
Die Europäische Union hat in den letzten Monaten die Entwicklung eines Zwei-Klassen-Systems zugelassen. Während ukrainische Staatsangehörige in der EU Schutz genießen und mit dem ihnen gebührenden Mitgefühl behandelt werden, werden Menschen, die aus anderen Ländern fliehen, eingesperrt und in einem System, das in beschämender Weise von Rassismus und anderen Formen der Diskriminierung geprägt ist, mit unzähligen Hindernissen konfrontiert.
Die Reaktionen der Europäischen Kommission auf den Versuch Litauens, Push-Backs, automatische Inhaftierung und die Verweigerung von Asyl mittels seiner nationalen Gesetzgebung zu „legalisieren“, reichten von offenem Lob bis zu stillschweigendem Einverständnis.
Die Führung der Kommission erklärte den Mitgliedern des Europäischen Parlaments zwar, Push-Backs seien eindeutig rechtswidrig, meinte aber, es lägen keine konkreten Beweise vor, dass diese auch durchgeführt würden. Der heute veröffentlichte Bericht von Amnesty International liefert mehr als genug Beweise, und auch andere internationale Organisationen und lokale Gruppen haben dies bereits im letzten Jahr belegt.
Die Europäische Kommission hat bisher noch kein Vertragsverletzungsverfahren gegen Litauen eingeleitet, dessen Gesetzgebung, Politik und Vorgehensweisen eklatant gegen das Völkerrecht und EU-Recht verstoßen. In der Zwischenzeit leisten Angehörige der Europäischen Grenz- und Küstenwache (Frontex) den litauischen Grenzposten weiterhin Unterstützung, und das auch bei Grenzkontrollen und anderen Aktivitäten, die zu Menschenrechtsverletzungen beitragen können.