"Der Internationale Strafgerichtshof sowie andere Gerichte, die für während des Konflikts begangene Verbrechen zuständig sind, müssen diesen Angriff als ein Kriegsverbrechen behandeln und entsprechend untersuchen. Alle Verantwortlichen müssen für die Todesfälle und Zerstörung zur Rechenschaft gezogen werden,“ sagt Agnès Callamard.
Das Wort "Kinder" in großen Lettern vor dem Theater gemalt
Im Zuge des russischen Einmarsches in der Ukraine gegen Ende Februar 2022 flohen immer mehr Zivilpersonen aus ihren Häusern und Wohnungen, da Städte und Dörfer zum Ziel militärischer Angriffe wurden. In der belagerten Start Mariupol in der Region Donezk wurde das Theater zu einem Zufluchtsort für die Zivilbevölkerung.
Das Theater im Stadtteil Tsentralnyi wurde zu einem Umschlagplatz für die Verteilung von Medikamenten, Lebensmitteln und Trinkwasser und zu einem Treffpunkt für Menschen, die auf eine Evakuierung mittels humanitärer Korridore hofften. Mehr als jedes andere Gebäude in der Stadt war das Theater eindeutig als ziviles Objekt erkennbar.
Die Bewohner*innen der Stadt hatten zudem in riesigen Buchstaben das kyrillische Wort „Дети“ – russisch für „Kinder“ – rechts und links auf den Hof neben das Gebäude geschrieben. Dies sollte für die russischen Pilot*innen und auch auf Satellitenaufnahmen deutlich zu sehen gewesen sein.
Dennoch wurde das Theater am 16. März um kurz nach 10 Uhr morgens von russischen Bomben getroffen. Die darauffolgende Explosion brachte das Dach und große Teile zweier tragender Wände zum Einsturz. Zum Zeitpunkt des Angriffs befanden sich Hunderte Zivilpersonen entweder in dem Theater oder in unmittelbarer Nähe.
Amnesty International ist überzeugt, dass wenigstens zwölf Menschen durch den Angriff getötet und viele weitere schwer verletzt wurden. Diese Schätzung liegt niedriger als vorherige Schätzungen, da sie der Tatsache Rechnung trägt, dass sehr viele Menschen das Theater in den zwei Tagen vor dem Angriff verlassen hatten und die meisten verbleibenden Personen im Keller des Theaters oder in anderen Teilen des Gebäudes Zuflucht suchten, die nicht von der vollen Wucht der Explosion getroffen wurden.
Luftangriff mit zwei 500-Kilo-Bomben
Amnesty International beauftragte eine Physikerin mit der Anfertigung eines mathematischen Modells der Explosion, um festzustellen, welches Netto-Explosivstoffgewicht nötig ist, um das verursachte Ausmaß an Zerstörung herbeizuführen. Dies ergab, dass die Bomben ein Netto-Explosivstoffgewicht von 400-800 kg aufwiesen. Ausgehend von vorliegenden Nachweisen über die Fliegerbomben, die Russland besitzt, handelte es sich nach Ansicht von Amnesty International höchstwahrscheinlich um zwei 500-Kilo-Bomben desselben Modells, was einem Netto-Explosivstoffgewicht von 440-600 kg entsprechen würde.
Bei den eingesetzten Flugzeugen handelte es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um Multirollen-Kampfflugzeuge wie z. B. Su-25, Su-30 oder Su-34, die auf einem nahegelegenen russischen Luftlandeplatz stationiert waren und häufig über der südlichen Ukraine im Einsatz waren.
Amnesty International untersuchte auch mehrere alternative Theorien darüber, wer für den Angriff verantwortlich war und welche Waffen verwendet wurden. Basierend auf den verfügbaren stichhaltigen Beweisen kam die Untersuchung zu dem Schluss, dass ein vorsätzlicher Luftangriff auf ein ziviles Objekt die plausibelste Erklärung ist.
Gezielte Angriffe auf Zivilpersonen
Das humanitäre Völkerrecht ist der Rechtskorpus, der in erster Linie bewaffnete Konflikte regelt. Ein Grundprinzip des humanitären Völkerrechts besagt, dass die an einem bewaffneten Konflikt beteiligten Parteien jederzeit zwischen Zivilpersonen und zivilen Objekten einerseits und Militärangehörigen und militärischen Objekten andererseits unterscheiden müssen.
Militärische Objekte dürfen ins Visier genommen werden; Zivilisten und zivile Objekte hingegen dürfen nicht gezielt angegriffen werden. Vor jedem Angriff müssen die Militärangehörigen Maßnahmen ergreifen, um sicherzustellen, dass sie mit hinreichender Sicherheit keine Zivilpersonen und zivilen Objekte angreifen.
Der zivile Charakter des Theaters und die Anwesenheit zahlreicher Zivilpersonen war in den Wochen vor dem Militärschlag offensichtlich. Die Art des Angriffs – die bombardierten Teile des Gebäudes sowie die wahrscheinlich verwendeten Waffen – und das Fehlen eines potenziell legitimen militärischen Ziels in der Nähe deuten stark darauf hin, dass das Theater das beabsichtigte Ziel war. Infolgedessen stellt der Angriff aller Wahrscheinlichkeit nach einen vorsätzlichen Angriff auf ein ziviles Objekt dar und ist daher ein Kriegsverbrechen.