Menschenrechtliche Auswirkungen der COVID-19-Pandemie: Prekäre Arbeitsbedingungen verschärft
Der aktuelle Bericht ist Teil einer europaweiten Kampagne von Amnesty zu den menschenrechtlichen Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf Menschen in prekären Arbeitsverhältnissen. In Österreich wurde die Situation der 24-Stunden-Betreuer*innen mit einem umfassenden Bericht analysiert. In Italien sprach Amnesty International zwischen Februar und August 2021 mit 34 Gesundheits- und Pflegefachkräften, die während der Pandemie in Pflegeheimen arbeiteten, sowie mit Gewerkschafter*innen, Rechtsanwält*innen und Rechtsexpert*innen. Die Interviews zeichnen das Bild eines stark weiblich geprägten Sektors, der unter Personalmangel, niedrigen Löhnen und prekären Arbeitsbedingungen leidet, die durch die schlimmste Pandemie seit einem Jahrhundert noch verstärkt werden. Die Tendenz, Pflege- und Gesundheitsfachkräfte in Italien zum Schweigen zu bringen, ist außerdem Teil eines alarmierenden globalen Trends, in dem die Behörden während der Pandemie weltweit das Recht auf freie Meinungsäußerung verletzt haben, wie Amnesty International wiederholt feststellte. Auch in Ländern wie Polen, Russland, dem Vereinigten Königreich und den Vereinigten Staaten wurden Beschäftigte im Gesundheits- und Pflegebereich angegriffen, weil sie ihre Meinung äußerten.
Hoher Preis: Zwei Drittel der am Arbeitsplatz Infizierten waren aus dem Gesundheitsbereich
Die Pandemie hat dem Personal in Italiens Pflegeheimen, das zu 85 Prozent aus Frauen besteht, einen hohen Tribut abverlangt. Offiziellen Statistiken zufolge waren 65,6 Prozent aller Arbeitnehmer*innen, die sich in Italien am Arbeitsplatz mit COVID-19 infizierten, im Gesundheits- und Pflegebereich beschäftigt. Fast ein Viertel der Arbeitnehmer*innen, die nach einer Ansteckung am Arbeitsplatz starben, waren Angestellte im Gesundheitswesen und in Pflegeheimen.
Disziplinarische und gewerkschaftsfeindliche Maßnahmen
Neben der ständigen Angst vor Ansteckung begleitete die Arbeitnehmer*innen auch ein Klima der Angst und der Repressalien. Ein Drittel der Beschäftigten, mit denen Amnesty International sprach, äußerte sich darüber besorgt. Anwält*innen berichteten über mehr als ein Dutzend Fälle von Disziplinarverfahren und Entlassungen, die sich gegen Beschäftigte richteten, darunter auch gegen Gewerkschaftsvertreter*innen, die Bedenken hinsichtlich des Mangels an angemessenen Gesundheits- und Sicherheitsmaßnahmen in verschiedenen Pflegeheimen äußerten.
Pflegesektor durch Todesfälle erschüttert – Probleme weiterhin ungelöst
Bereits im Dezember 2020 wies Amnesty International darauf hin, dass die italienischen Behörden es verabsäumt haben, angemessene Maßnahmen zum Schutz älterer Menschen in Pflegeheimen zu ergreifen, einschließlich ihres Rechts auf Leben, Gesundheit und Schutz vor Diskriminierung. Bis zum 29. September 2021 starben in Italien mehr als 130.200 Menschen an COVID-19, mehr als 95 Prozent von ihnen waren älter als 60 Jahre. Einigen Schätzungen zufolge starben 8,5 Prozent aller in Pflegeheimen lebenden älteren Menschen in Italien in den ersten Monaten der Pandemie. Die Impfkampagne, die sich vorrangig an die Bewohner*innen von Pflegeheimen sowie an das Gesundheits- und Pflegepersonal richtete, führte zu einem Rückgang der Morbidität und Mortalität sowohl bei älteren Menschen als auch bei den Beschäftigten in Pflegeheimen. Doch die seit langem bestehenden Probleme in diesem Sektor, darunter niedrige Löhne und die Überrepräsentation von Frauen in einem Sektor mit schlechten Arbeitsbedingungen, bleiben weiterhin ungelöst.
Unabhängige Untersuchung dringend erforderlich
Amnesty International fordert das italienische Parlament auf, einen unabhängigen Untersuchungsausschuss einzurichten, der die Reaktion der Behörden auf die COVID-19-Pandemie mit besonderem Augenmerk auf die Pflegeheime untersucht. Ein solcher Ausschuss muss sich auch mit den ernsthaften Bedenken der Arbeitnehmer*innen und Gewerkschaften in Bezug auf Gesundheit, Sicherheit und schlechte Arbeitsbedingungen während der COVID-19-Pandemie und davor befassen. Obwohl sich einige Vorschläge im Anfangsstadium befinden, wurde noch keine Untersuchung genehmigt. „Die italienischen Behörden müssen sicherstellen, dass die Stimmen der Arbeitnehmer*innen gehört werden“, fordert auch Annemarie Schlack.