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© Amnesty International/Richard Burton

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Türkei: 10 Menschen, 100 Tage in Haft

13. Oktober 2017

10 absurde Gründe, warum die "Istanbul 10" seit Monaten im Gefängnis sitzen

Vor über 100 Tagen stürmten türkische Sicherheitskräfte einen Trainingsworkshop zum Thema Menschenrechte und nahmen 10 bekannte Aktivist*innen fest. Der Großteil der Gruppe – auch bekannt als die „Istanbul 10“ – wird nun in einem türkischen Hochsicherheitsgefängnis festgehalten.

Diese Woche reichte die Staatsanwaltschaft eine Klage gegen die Gruppe ein – sie betrifft einen deutschen und einen schwedischen Trainer sowie den Direktor von Amnesty International Türkei. Darin wird für die Aktivisten*innen eine 15-jährige Haftstrafe wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung gefordert. 

Die Anschuldigungen und Gründe für ihre fortgesetzte Inhaftierung könnten absurder nicht sein. Wir haben 10 davon gesammelt.

Ein „geheimes Treffen“

Die türkische Staatsanwaltschaft versucht das Treffen als eine undurchsichtige Verabredung von Verschwörer*innen darzustellen, die planten, „Chaos in der Gesellschaft“ anzurichten. Das entspricht aber absolut nicht der Wahrheit:

1. Es handelte sich nicht um ein geheimes Treffen. Zahlreiche Mitglieder vieler anderer Organisationen waren eingeladen.

2. Das Treffen wurde in einem verglasten Gebäude abgehalten, wo die Teilnehmer*innen von außen sichtbar waren. Außerdem stand laut Polizeibericht die Tür des Zimmers, wo sich die Teilnehmer*nnen aufhielten, weit offen.

3. Peter Steudtner – einer der Trainer, die an dem Treffen teilnahmen – hatte im deutschen Registrationssystem für Auslandsreisen angegeben, wohin er fahren würde und was er in der Türkei vorhatte. Die türkische Staatsanwaltschaft wertet diese Informationen jedoch als Beweis für eine Verwicklung der deutschen Regierung in die angebliche Verschwörung.

4. Eine der Teilnehmer*innen, Nalan Erkem, postete ein Foto des Hotels auf ihrem Instagram-Profil und kündigte öffentlich an, wo sie sich aufhielt. „Wo übernachtest du?“, fragte darunter eine Freundin. „Im Hotel Ascot“, antwortete Nalan.

© Nalan Erkem

Irgendein Dolmetscher aus dem Internet?

Für die Besprechung terroristischer Pläne mag es sinnvoll erscheinen, einen vertrauenswürdigen, bereits bekannten Dolmetscher heranzuziehen. Dies lässt man jedoch nicht gelten:

5. Die Gruppe hatte ihren Dolmetscher, den sie nie zuvor getroffen hatte, auf einer Website zur Vermittlung von Dolmetscher*innen gefunden.

Es war dieser Dolmetscher, der die Polizei eingeschaltet hatte, und Folgendes weitergegeben hatte: „Einige der Gespräche, die ich hörte, drehten sich um Handys, die an der Polizei vorbeigeschmuggelt werden sollten, wie Informationen auf diesen Geräten gespeichert waren und wie diese verschlüsselt seien. Sowohl die ausländischen als auch die türkischsprachigen Teilnehmer*innen waren sehr besorgt und stellten Fragen dazu.“

Wenn die Polizeiaktion auf dieser Aussage basierte, dann handelte es sich dabei mit Sicherheit nicht um einen sorgfältig geplanten Schlag gegen Verschwörer*innen, der sich auf gesicherte Informationen stützte.

Lückenhafte Beweislage

6. Eine skizzenhafte „Landkarte“, die von der Polizei am Besprechungstisch gefunden wurde, dient als eines der wichtigsten Beweismittel gegen die Festgenommenen.

© Amnesty International

Als Einstiegsaufgabe in den Workshop hatte der Trainer Peter Steudtner die Teilnehmer*innen gebeten, etwas zu zeichnen, das bei ihnen Stress auslöst. Seyhmus Özbekli, der an Klaustrophobie leidet, zeichnete einen Lift; İlknur Üstün, eine begeisterte Squashspielerin, zeichnete Bälle, die auf sie zuflogen und Özlem Dalkıran malte eine Landkarte der Türkei, wo sie den Krieg im Südosten symbolisch einzeichnete, Gefangene in Istanbul, Flüchtlinge aus dem Krieg im Irak und Syrien, sowie Wasserkraftwerke im Schwarzen Meer.

7. Özlems schlechte Skizze der Türkei ist nicht die einzige Landkarte, die als Beweismittel dient.

Eine weitere Landkarte wurde auf Ali Gharavis Computer gefunden, die ebenso als belastendes Beweismittel eingesetzt wird – trotz der Tatsache, dass es sich dabei schlicht und einfach um eine wissenschaftliche Darstellung der Sprachgruppen in der Türkei, im Irak und Iran handelt. Die Karte ist online verfügbar und dient Bildungszwecken.

© Amnesty International

„Wenn das eine Straftat ist ... werden wir sie auch in Zukunft begehen.“

8. Die Klage gegen İdil Eser umfasst Anschuldigungen, dass sie mit Amnesty International einen Brief an die Botschaft Südkoreas in der Türkei versendet habe, in dem sie nach den Protesten im Gezi Park um einen Lieferstopp von Tränengaskanistern an die Türkei bat. Solche Briefe sind Teil des Arbeitsalltags von Amnesty International; zudem wurde der Brief versendet, noch bevor İdil der Organisation beigetreten war.

9. Die Frauenrechtsaktivistin İlknur Üstün wird beschuldigt, „bei einer Botschaft“ um finanzielle Unterstützung für ein Projekt zur „Gleichberechtigung, Partizipation in der Politik und in der Berichterstattung“ angefragt zu haben. Über ihre Tätigkeit schreibt sie aus dem Gefängnis: „Wenn das ein eine Straftat ist ... werden wir sie auch in Zukunft begehen.“

10. Die unglaubwürdigste „terroristische“ Gruppierung, die es je gab: Keiner von den "Istanbul10" hat jemals zu Hass, Gewalt oder Diskriminierung aufgerufen.

Der schwedische Trainer Ali Gharavi stellte sich anderen Menschen häufig mit den folgenden Worten vor: „Ich heiße Ali – wie der Boxer Muhammad Ali –, aber ohne die Gewalt“.

Es wäre schwer, eine Gruppe von Menschen zu finden, die weniger gewaltbereit wäre: Peter Steudtner setzte sich sein ganzes bisheriges Leben lang für friedliche und gewaltfreie Konfliktlösung ein, indem er den Menschen das „Do-No-Harm“-Prinzip näherbrachte. In einem Brief, den er aus dem Gefängnis schickte, schrieb er: „Es ist mir wichtig, dass die politische und rechtliche Verantwortung für unsere Situation nicht auf die Türkei als Land oder auf ihre Bevölkerung geschoben wird ... Gehen wir den gewaltfreien Weg der Menschenrechte gemeinsam!“

İdil Eser arbeitete für viele zivilgesellschaftliche Organisationen einschließlich der Helsinki Citizens’ Assembly und Ärzte ohne Grenzen. Als 2011 Erdbeben die Osttürkei erschütterten, flog sie nach Van und bot ihre Hilfe an.

Günal Kurşun ist Wissenschaftler und Anwalt. Er schrieb im Gefängnis zehn Geschichten für seinen 2-jährigen Sohn.

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