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„The Social Dilemma“: Warum Big-Tech-Unternehmen dringend ein neues Geschäftsmodell brauchen

18. September 2020

Von Rasha Abdul Rahim, Co-Direktorin Amnesty Tech

Eines ist im Jahr 2020 besonders deutlich geworden: Für viele unserer sozialen Beziehungen und Interaktionen sind wir auf das Internet angewiesen. Während der Pandemie stellten und stellen Online-Plattformen wie Facebook und Google für viele von uns einen Rettungsanker dar: Sie ermöglichten es uns, mit unserer Familie und Freund*innen in Kontakt zu bleiben; außerdem konnten wir so den Büro- und Schulalltag in die eigenen vier Wände verlegen. Aktuelle Gesundheitsinformationen wurden auch vermehrt online verbreitet. Diese Annehmlichkeiten haben jedoch ihren Preis: Sie gehen auf Kosten unserer Menschenrechte und wirken sich auf unsere psychische Gesundheit aus, wie die neue Dokumentation „The Social Dilemma“ (vergangene Woche auf Netflix erschienen) eindrücklich zeigt.

„The Social Dilemma“ ist tatsächlich ein Augenöffner: Die Dokumentation zeigt, wie viele Plattformen unser Leben ständig beobachten – und auch kontrollieren. Ein Vergleich mit der Truman Show liegt nahe, nur auf astronomischem Niveau: Ein Drittel unseres Planeten wird auf diese Weise überwacht.

Im vergangenen April erklärte Eric Schmidt, ehemaliger CEO von Google: „Die Vorteile, die uns diese Unternehmen – die gerne schlechtgeredet werden – für unsere Kommunikationsfähigkeit und Informationsgewinnung bieten, sind enorm…“.

Er vertrat die Ansicht, dass die Menschen dankbar sein sollten, dass „diese Unternehmen über das Kapital verfügen, die Investitionen getätigt und die Tools entwickelt haben, die wir heute nutzen und die uns helfen.“ In der Netflix-Dokumentation zeichnen Silicon-Valley-Insider ein völlig anderes Bild: Sie vertreten die Ansicht, dass die Plattformen die schlechteste Seite der Menschheit herauskehren würden, als direkte Folge davon, wie die Plattformen eben beschaffen sind.

Die Plattformen sind auf die Optimierung dreier Aspekte ausgelegt: 1) Die Dauer, für die sie uns an den Bildschirm fesseln; 2) die Anzahl an User*innen, die sie erreichen; und 3) die Höhe der Werbeeinnahmen, die sie generieren können durch möglichst viele an Bildschirme gefesselte User*innen.

Darauf basiert ihr Geschäftsmodell. Dieses ist schließlich darauf ausgelegt, unsere persönlichen Informationen zu sammeln und zu Geld zu machen. Die grundlegende Eigenschaft dieses Modells ist es also, große Mengen an Daten von Menschen zu sammeln, indem man letztere dazu bringt, so lange wie möglich auf den Plattformen zu verweilen. Diese Daten werden schließlich genutzt, um unglaublich detaillierte Profile über das Leben und Verhalten der User*innen zu erstellen und diese anschließend in Geld umzuwandeln, um Prognosen über die zukünftigen Handlungen dieser Menschen an jeden zu verkaufen, der Menschen beeinflussen möchte.

Wie wir bereits in unserem Bericht „Surveillance Giants“ aus dem Jahr 2019 warnten, steht das auf Überwachung basierende Geschäftsmodell von Facebook und Google nicht nur im Gegensatz zu unserem Recht auf Privatsphäre, sondern stellt eine systemische Bedrohung für eine Reihe anderer Rechte dar, einschließlich Meinungs- und Redefreiheit, Gedankenfreiheit und das Recht auf Gleichheit und Gleichbehandlung.

Algorithmen definieren die Inhalte, die jeder einzelne von uns zu sehen bekommt

Algorithmen auf Youtube definieren, welches Video als nächstes abgespielt wird, während jene von Facebook die Inhalte unserer Feeds und die Werbung festlegen, die uns gezeigt werden. Häufig verbreiten diese Algorithmen verstärkt Falschinformationen und umstrittene Inhalte, schüren Rassismus und beeinflussen sogar unsere eigenen Lebenseinstellungen und Meinungen.

Der Film zeigt, wie überwiegend weiße Männer im Silicon Valley explizit mit der Aufgabe betraut werden, die Schwachpunkte der menschlichen Psyche auszunutzen: Unser Suchtverhalten, unser Bedürfnis nach sozialer Wertschätzung und unser Hang zu hetzerischen Inhalten und Sensationsnachrichten. Genau deshalb, weil diese Unternehmen herausgefunden haben, dass dies die beste Art und Weise ist, wie sie uns noch länger an sich binden können, immer mehr Daten über uns sammeln und noch bessere Prognosen über uns treffen können und ihre Profite via Werbung maximieren können.

 

Tristan Harris, ehemaliger Designer bei Google

Wenn du für ein Produkt nichts bezahlst, bist du das Produkt.

In anderen Worten: Das gesamte Informations-Ökosystem, dass aktuell etwa ein Drittel der Welt erreicht, wurde nicht entwickelt, um uns zu dienen, sondern um uns zu manipulieren und uns zu benutzen. Die Dienste von Facebook und Google scheinen „gratis“ zu sein, aber es gilt, wie der ehemalige Google-Designer Tristan Harris im Film sagt: „Wenn du für ein Produkt nichts bezahlst, bist du das Produkt“. Und die Dominanz dieser Unternehmensplattformen bedeutet, dass es nun tatsächlich unmöglich geworden ist, das Internet zu nutzen, ohne ihrem auf Überwachung basierenden Unternehmensmodell „zuzustimmen“.

Auch wenn der Film diese Tatsachen als „soziales Dilemma“ darstellt, muss es das überhaupt nicht sein. Trotz allem, was uns eingeredet wird, muss das Internet nicht auf Überwachung basieren.

Menschen, die sich auf Plattformen registrieren ließen, als diese noch deutlich mehr Respekt für ihre Privatsphäre einräumten oder bevor diese von Facebook oder Google gekauft wurden, haben nun die Wahl: Sie können die Plattform verlassen, die sie aber eigentlich dringend brauchen – oder sich ständiger Überwachung unterwerfen. Das ist keine legitime Wahlmöglichkeit und sollte es auch nicht sein.

Es ist absolut notwendig, dass die Regierungen ihrer Pflicht nachgehen und Vorschriften einführen, die dieses Geschäftsmodell in die Schranken weisen und unsere Rechte schützen. Dies ist ein systemisch-strukturelles Thema, das nicht leicht anzugehen ist und eine Reihe an politischen, rechtlichen und strukturellen Lösungen erfordert.

Es wird nicht ausreichen, strengere Einschränkungen für das Tracking und die Nutzung persönlicher Daten zu definieren, wenn sich nichts an der Konzentration der Daten – und damit der Macht – in den Händen von Facebook und Google ändert. Eine wachsende Anzahl an Politiker*innen, Gesetzgeber*innen und Wissenschafter*innen fordert die Zerschlagung der Big-Tech-Unternehmen. Aber sie werden die systematischen Menschenrechtsverletzungen nicht beenden können, wenn sie sich nicht für Änderungsmaßnahmen einsetzen, die die überwachungsbasierten Geschäftsmodelle selbst betreffen.

Kein Ansatz wird für sich allein zum Erfolg führen – auch das soziale Dilemma können wir nicht allein lösen. Unsere Regierungen müssen dringend aktiv werden, um uns vor dem Missbrauch der Big-Tech-Unternehmen zu schützen.

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