Für viele Frauen birgt die Reise in die Sicherheit eine erhebliche emotionale und körperliche Belastung. Maryna*, eine Binnenvertriebene, die mit ihren Kindern wegen der russischen Besetzung aus der Oblast Donezk geflohen ist, erklärt gegenüber Amnesty International:
„Es ist sehr schwer. Ich bin allein mit drei Kindern. Niemand hat daran geglaubt, dass der Krieg kommt. Als er kam, war es ein Schock, und es war furchterregend. Wir haben überall um uns herum die schweren Gefechte gehört. Die russischen Militärflugzeuge sind so niedrig geflogen, dass wir die Augen der Pilot*innen darin sehen konnten – das hatte große Auswirkungen auf die Kinder.“
„Von diesem Tag an haben wir fast einen Monat lang in einem Keller gewohnt, weil die Kinder zu große Angst hatten. Meine Tochter konnte nicht mehr im Haus schlafen. Meine Kinder leiden unter den schweren psychischen und emotionalen Belastungen. Wegen des Beschusses und der Luftangriffsalarme kann man sich nirgendwo mehr sicher fühlen,“ so Maryna*.
Auswirkungen auf die seelische, körperliche sowie sexuelle und reproduktive Gesundheit von Frauen
Russlands anhaltende Attacken auf die kritische zivile Infrastruktur, die Kriegsverbrechen gleichkommen, haben für die Bewohner*innen der Ukraine den Zugang zu Gesundheitsversorgung massiv untergraben.
Kateryna*, eine Binnenvertriebene, die zu Beginn der Invasion in der neunten Woche schwanger war und in der Oblast Donezk lebte, berichtete Amnesty International: „Ich wusste nicht, was mit uns geschehen würde. Es gab Gerüchte über Evakuierungen und darüber, dass Ärzt*innen die Region verlassen würden. Ich konnte die Ultraschalluntersuchung und all die anderen Untersuchungen nicht machen. Es war einfach nicht möglich. Das hat die Angst und die emotionale Anspannung noch verschärft.“
Nachdem sie nach Dnipro geflohen war, sah sich Kateryna anhaltenden Schwierigkeiten gegenüber, da sie ein Neugeborenes zu versorgen hatte und gleichzeitig im Kriegsgebiet arbeitete. „[Die] Frontlinie rückt immer näher an unsere Stadt heran. Die Ungewissheit ist das Beklemmendste. Wo wirst du morgen sein? Kannst du morgen noch nach Hause gehen? Ich bräuchte psychologische Hilfe, aber wegen meinem kleinen Kind habe ich nicht genug Zeit, um mit einer Psychologin zu sprechen, nicht einmal am Telefon. Aber ich spüre, dass ich das bräuchte.“
Menstruierende Personen sind aufgrund begrenzter Vorräte und gestiegener Preise für Produkte der Monatshygiene gezwungen, sich zwischen Lebensmitteln und Hygieneartikeln zu entscheiden.
„Es gibt Binden und Tampons zu kaufen, aber aufgrund der finanziellen Probleme muss ich mich entscheiden, ob ich Geld für Essen oder Binden ausgebe. Seit dem Beginn des Großangriffs benutze ich improvisierte Hilfsmittel“, sagte Tamara.
Yulia*, deren Zuhause durch russische Luftangriffe zerstört wurde, berichtete Amnesty International, dass sie in einem Hilfszentrum für Binnenvertriebene für sich und ihre Tochter Artikel für die Monatshygiene bekam.
Zunahme von sexualisierter und geschlechtsspezifischer Gewalt
In den vom Konflikt betroffenen Regionen verschlimmert und häuft sich für die dort Lebenden die geschlechtsspezifische Gewalt aus vielen Gründen. Dazu zählen der Mangel an Sicherheit, das Fehlen oder die Aushöhlung der Rechtsstaatlichkeit und die weit verbreitete Straflosigkeit für die Täter. Eine Rolle spielt auch das fehlende Vertrauen gegenüber den Besatzungsbehörden sowie das Stigma, das damit einhergeht, wenn man Erfahrungen mit sexualisierter und geschlechtsspezifischer Gewalt offenlegt.
Maryna*, die Mitarbeiterin einer humanitären Organisation, berichtete Amnesty International: „Sexueller Missbrauch ist ein gigantisches Problem für Frauen. Ich habe an einer Schulung teilgenommen, und man hat uns gesagt, dass es Fälle gibt, in denen [auch] Kinder nach der Evakuierung Anzeichen für sexuellen Missbrauch aufwiesen.“
Bei ihrer Arbeit in einer Sammelstelle für Binnenvertriebene wurde Maryna Zeugin von eskalierender häuslicher Gewalt. „60 Personen waren in einer Turnhalle untergebracht. Ich war schon vorher beruflich mit dem Thema beschäftigt, doch selbst ohne meine Erfahrung erkennt man [die Anzeichen für Gewaltanwendung] mit bloßem Auge. Ich habe dort viel davon gesehen.“