Kontrolle über Land und Ressourcen
Vor einem Jahr veröffentlichte Amnesty International eine Analyse über das von insraelischen Behörden institutionalisierte System der Unterdrückung der Palästinenser*innen. Dieser Bericht zeigt unter anderem auf, inwiefern israelische Gesetze und Bestimmungen darauf abzielen bei der Kontrolle über Grund und Boden sowie Ressourcen die palästinensische Bevölkerung gezielt zu benachteiligen.
Seit Erscheinen des Berichts belegen einige besorgniserregende Entwicklungen diese Analyse: Dazu gehört die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs Israels, die Zwangsräumungen von über 1.150 Palästinenser*innen aus Masafer Yatta zu erlauben, der von den Behörden geduldete Anstieg der gewaltsamen Angriffe von israelischen Siedler*innen gegenüber Palästinenser*innen (und sie unterstützenden Israelis) und die Zerstörung von fast 1.000 palästinensischen Häusern und anderem palästinensischen Eigentum. Diese Angriffe finden oft in Anwesenheit der israelischen Armee statt, ohne dass diese einschreitet, um sie zu unterbinden.
Pläne der Regierung
Die neue Regierung unter Premierminister Benjamin Netanyahu hat die erhebliche Ausweitung der völkerrechtswidrigen Besiedelung der besetzten palästinensischen Gebiete offiziell zu einem zentralen politischen Ziel erklärt. In der Präambel des Koalitionsvertrags steht der alleinige jüdische Anspruch auf das gesamte Gebiet zwischen dem Mittelmeer und dem Jordan an zentraler Stelle. In Israel haben die Behörden Pläne zur Zerstörung des nicht anerkannten Beduinendorfes Ras Jrabah in der Wüste Negev/Naqab vorangetrieben. Die Zerstörung des Dorfes würde eine Vertreibung von 500 palästinensischen Beduin*innen bedeuten. Al-Araqib, ein weiteres nicht anerkanntes Dorf, wurde im Jänner 2023 bereits zum 212. Mal zerstört.
Die neue israelische Regierung bereitet außerdem derzeit eine Reihe von Gesetzen und Maßnahmen vor, die die Menschenrechte wesentlich einschränken würden. Eine geplante Gesetzesänderung von Justizminister Yariv Levin soll es dem Parlament ermöglichen, das Oberste Gericht zu überstimmen. Damit würde dieses seine wichtige Schutzfunktion für Verfassung und Menschenrechte verlieren. Der Schutz grundlegender Menschenrechte würde zukünftig allein vom Willen einer Parlamentsmehrheit abhängen. Seit Wochen gehen zehntausende Israelis gegen diese und weitere Regierungspläne auf die Straße.
Zu den Plänen gehören auch Beschränkungen für Palästinenser*innen in Israel, ihre nationale Identität zum Ausdruck zu bringen. Organisationen der israelischen Zivilgesellschaft, die sich seit Jahrzehnten für die Rechte von Palästinenser*innen einsetzen, drohen Einschränkungen wie etwa eine Besteuerung ausländischer Spenden- und Fördergelder an diese Organisationen.
Israelische Menschenrechtsorganisationen wie Ofek, Breaking The Silence/Shovrim Shtika, Yesh Din und The Association for Civil Rights in Israel äußern in einer gemeinsamen menschenrechtlichen Analyse die Sorge, dass das System der Segregation im Westjordanland unter der neuen Regierung weiter etabliert und ausgeweitet wird.
Im März 2022 hat das israelische Parlament das "Gesetz über die Staatsangehörigkeit und die Einreise nach Israel" wieder in Kraft gesetzt. Das Gesetz schreibt willkürliche und diskriminierende Einschränkungen des Rechts auf Familienzusammenführung für Palästinenser*innen in Israel und Ost-Jerusalem mit Ehegatten in den besetzten palästinensischen Gebieten fest.
Internationale Debatte über das völkerrechtliche Verbrechen der Apartheid
Die systematischen Verletzungen der Rechte von Palästinenser*innen haben in den vergangenen Jahren eine wachsende Debatte über den völkerrechtlichen Tatbestand der Apartheid ausgelöst. Neben Amnesty International sehen eine Reihe weiterer internationaler und israelischer Organisationen (Human Rights Watch, Yesh Din, B’tselem, Breaking The Silence, Ofek, HaMoked) diesen völkerrechtlichen Tatbestand in Teilen oder insgesamt für Israel und die besetzten Gebiete als erfüllt.
Im vergangenen Jahr sind zwei UN-Sonderberichterstatter zu dem Schluss gekommen, dass israelische Behörden das Verbrechen der Apartheid gegenüber Palästinenser*innen begehen. Im UN-Menschenrechtsrat hat sich die Zahl der Länder verdoppelt, die sich auf den völkerrechtlichen Tatbestand der Apartheid berufen (von neun in 2021 auf 18 in 2022). Südafrika hat im Juli 2022 die UN-Vollversammlung aufgefordert, ein Komitee einzurichten, um zu überprüfen, ob die israelischen Behörden das Verbrechen der Apartheid gegenüber den Palästinenser*innen verüben. Die deutsche Bundesregierung, wie auch die Regierungen der USA oder Frankreichs, lehnen den Begriff der Apartheid mit Blick auf die Menschenrechtsverletzungen in Israel und den besetzten Gebieten weiter ab.
Dem Internationalen Gerichtshof obliegt derzeit erneut die Prüfung der menschenrechtlichen Lage der Palästinenser*innen in den besetzten palästinensischen Gebieten, einschließlich Ost-Jerusalem, sowie die Prüfung der Frage, ob die israelische Besatzung immer noch als "temporär" zu bezeichnen ist oder de facto einen permanenten Status darstellt. Das Ergebnis dieser Prüfung kann die Debatte um den Tatbestand der Apartheid beeinflussen.